
Dieser Roman beschreibt Bilder, die der Protagonist Aleksy mit lakonischen Worten einfängt. Er, der eigentlich malt, schreibt nun und erinnert sich an seine Jugend und an jenen Sommer, in dem er seine Mutter erstmalig wieder richtig wahrnahm und pflegte. Aus dem zynischen, garstigen und aggressiven Ton (der dadurch zuweilen auch humorvoll ist), der aus dem damaligen jungen Mann herausplatzt, wird ein nahbarer Klang, der Nähe zulässt. Der Lichtblick sind stets die Augen, die das Licht einfangen und auch ein Innenleben projizieren. Es sind die Augen, die Aleksy bei seiner Mutter schön findet. Anfänglich nur diese. Der Rest der Mutter ist in seinen Augen dumm und hässlich. Mit seinem wachsenden und erweiterten Blick bekommt die Mutter auch mehr Struktur, Schönheit und Wissen. Leider sieht Aleksy dieses erst, als sie im Sterben liegt.
Aleksy wirkt lieblos und aggressiv. Es ist der letzte Schultag und seine Mutter holt ihn vorm Schulgebäude wartend ab. Es dauert länger bis Aleksy zu ihr geht. Er lässt sie lange stehen und erträgt es kaum, sie zu sehen. Sie ist alleinerziehend und möchte ihrem Sohn eine gemeinsame Reise vorschlagen. Er hasst seine Mutter so sehr, dass er auch oft Mordgelüsten in seiner Phantasie nachgibt. Doch sagt er überraschend zu. Dabei hatte er mit seinen Freunden einen Trip nach Amsterdam geplant und freute sich auf Sex und Drogen.
Mutter und Sohn reisen nach Südfrankreich und mieten ein älteres, kleines Haus. Die dortige Enge lässt Aleksys Blick sich weiten. Er erhascht Licht in seiner Dunkelheit und die Mutter bekommt etwas Liebenswürdiges. Gerade in dem Moment, als sie von ihrer Krankheit erzählt. In Frankreich verändert sich alles für Aleksy. Beide haben ein Trauma zu verarbeiten. Der Verlust der Schwester, beziehungsweise der Tochter, hat beide in eine tiefe Trauer gestürzt. Die Mutter hatte damals auch den trauernden Sohn nicht annehmen können und seitdem wuchs das Zerwürfnis.
Der Sommer lässt beide wieder zusammenwachsen. Die Nähe irritiert die Gefühlswelt von Aleksy. Auch sein Liebesleben und seine beständigen Gedanken verwirren den jungen Mann, der später zurückkehrt, um dort zu malen und letztendlich die ganze Geschichte aufzuarbeiten.
Der Roman hat eine Sogwirkung durch den Sprachklang und die Bilder. Der Inhalt wird durch die Sprache jeweils passend eingefangen. Durch den Tablettenmissbrauch wirkt einiges wie berauscht und lässt an Halluzinationen denken. Der nach außen getragene Hass, der sich nur anfänglich zeigt, ist die reflektierte Selbstwahrnehmung des Protagonisten. Hass und Liebe werden die Motivation seiner Bilder. Bilder werden durch ihn und letztendlich durch die Autorin zu Worten.
Tatiana Țȋbuleac hat ein kraftvolles und sprachlich dichtes Werk geschrieben, das voller Dramen ist. Neben dem ganzen Unglück hat der Roman auch stets etwas Ursprüngliches, etwas Rohes und unfassbar Schönes. Der Text wandelt sich wie der Blick zu den Augen der Mutter: Die Augen der Mutter als Versehen, als Augen, die nach innen weinen, als Blickfang der nicht erzählten Geschichte bis hin zu den Narben jenes Sommers. Die Übersetzung aus dem Rumänischen stammt von Ernest Wichner.
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Hallo,
das klingt wirklich sehr interessant, daher kommt es jetzt direkt mal auf meine „2022 noch lesen“-Liste.
LG,
Mikka