Nassir Djafari: „Der Großcousin“

Ein fesselndes und weltbereicherndes Werk. Es ist, wie der Verlag tituliert, Luftwurzelliteratur. Luftwurzeln halten sich nicht an Begrenzungen, sondern wachsen über Grenzen hinaus und verwurzeln sich an mehreren Orten. Ein bewegliches Weltverständnis. Menschen haben ebenfalls solche Wurzeln. Sie reisen, wandern aus oder werden zur Flucht gezwungen. Alte Wurzeln keimen somit an neuen Orten. Menschen mit Luftwurzeln fühlen sich nicht nur einem Ort zugehörig. So ist auch diese Literatur komplex und verzweigt in diversen Kulturen.

Es ist der dritte Roman von Nassir Djafari und führt fort, was mit „Eine Woche, ein Leben“ begann. Jedes Werk steht für sich und ist einzigartig, doch kehren wir zurück in den selbigen Kosmos und Familie. Es geht um Herkunft und Identität. Der Autor wurde im Iran geboren und lebt seit seinem fünften Lebensjahr in Deutschland. Seine Literatur dreht sich um die Geschichte beider Länder, beider Kulturen und der Flucht vor der alltäglichen Gewalt und des Ankommens in einer neuen Umgebung. Doch sind es nicht nur zwei Kulturen, die hier berührt werden, denn die Hauptfigur empfindet sich als Kosmopolit und ist beruflich mit der ganzen Welt verbunden. Seine iranischen Wurzeln sind in seiner Identifikation verschüttet. Doch pflegt er eine enge Vater-Sohn Beziehung.

Es ist Abbe, ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann in Frankfurt, der Kunden und Projekte in der ganzen Welt betreut. Iran, das Land seiner Eltern ist nicht mehr das seinige. Er betrachtet vieles rein geschäftlich, auch wenn es zuweilen politisch oder ethisch fraglich werden könnte. Seine Arbeit steht oft im Mittelpunkt seines Alltags. Dies zum Leidwesen seiner Frau, Maria. Maria leitet ein Reisebüro und ist somit auch gedanklich und emotional den Grenzen entbunden. Abbe bekommt plötzlich Post. Ein Brief, den er, da sein Persisch sehr lückenhaft ist, nicht lesen kann. Sein Vater, der in einem Heim lebt, übersetzt ihm diesen. Es ist ein Brief eines fernen Verwandten, der auch kurz darauf vor der Tür steht. Abbe ist misstrauisch und bleibt anfänglich auf Distanz, denn der Besucher ist höflich, aber undurchschaubar. Als er auch um Geld bittet, bestätigen sich für Abbe die Befürchtungen. Doch verändert sich das gesamte Bild. Denn der Großcousin ist dann länger verschwunden, sagt er lebe in einer Wohngemeinschaft, bis er plötzlich erneut auftaucht und wieder Hilfe benötigt. Er ist nicht allein nach Deutschland gekommen, seine Frau und ihr gemeinsames Kind sind dabei. Durch das Auftauchen der neuen Familie aus dem Iran und deren Probleme, Geschichte und Schicksal verändert sich Abbes Leben. Er wird sich seiner eigenen Geschichte und der Herkunft immer mehr bewusst.

Ein Blick auf unterschiedliche Lebensbedingungen, verschiedene Kulturkreise. Die Umstände im Iran mit den dortigen Perspektiven für junge Menschen werden verständlich. Ebenso die Flucht und die Schwierigkeiten beim Wurzeln schlagen. Es geht ferner um Liebe, Verständnis, Familie und die Kultur. Besonders die persische Literatur und Lyrik schimmern durch diese Zeilen. Ein unvergesslicher und weltumspannender Roman, der viele Grenzen auflöst.

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