Archiv der Kategorie: Erlesenes

Danilo Pockrandt: „Daliegen wie eine Falltür“

Der Moment des Aufwachens. Alles ist noch im Zwischenraum, das Kommende und das Verlassene. Das Land der Träume und die sich androhende Realität begrenzen sich freundschaftlich. Es ist der Dämmerzustand, der dem Raum immer mehr Tiefe verleiht und mit dem Sonnenlicht das Dunkel und das Grau den Farben immer mehr Platz einräumen muss. Das Liegenbleiben und das ungläubige Blinzeln lassen spaltbreit die Umgebung, das Wahre und das Reale mit Stakkato-Blicken zu. Dennoch ist im Liegenden eine Falltür, durch die wir zurückfallen in die Phantasie oder in den noch nicht gefestigten Raum der Welt.

Danilo Pockrandt hat eine Kurzprosa im WhatsApp-Stil gewählt. Tatsächlich hat es auch mit solchen Nachrichten an eine Freundin angefangen und sich durch Screenshots in den sozialen Netzwerken verselbständigt. Dieses Archiv an Fundstücken bildet die Vorlage für das Buch. Die Mini-Texte gehen auf Sätze, auf gerade Erlebtes oder auf allgemeine Beobachtungen ein.

Im Zwielicht des morgendlichen Aufwachens beginnen die Betrachtungen und spannen einen Bogen zu einer Detailaufnahme der Welt. Mit ganz viel Witz und anekdotenhaftem Schalk werden dabei Filmsequenzen, das eigene Sprechen, Fragmente aus Geträumtem, Tiere oder das eigene Knie betrachtet. Die Literatur braucht, ahnt zumindest Danilo Pockrandt, der Wirklichkeit nichts hinzufügen. Es ist die menschliche Wahrnehmung, die im persönlichen Mittelpunkt steht. Auch die Gestaltung des Buches wirkt bereits Falltürengleich. Was sieht man? Was fängt den Blick ein?

Es ist ein kurzweiliger Text, der chronologisch gelesen einen ganzen Prozess umspannt und dann einlädt zu einem erneuten Blättern. Dabei kann gelacht, geschmunzelt oder einfach empfunden werden. Für Menschen, die Bücher mögen, aber meinen, keine Zeit zum Lesen zu finden. Dieses Buch ist dann ein wahrer Begleiter. Es ist kein Roman, es ist keine Lyrik, es ist etwas dazwischen und dämmert im Zwielicht und wartet, dass noch mehr Leser durch die gestellte Falltür stürzen und ganz viel Spaß und Freude am Lesen finden werden.

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Aya Cissoko: „Kein Kind von Nichts und Niemand“

Ein Schreibprozess wie ein Apnoe-Training. Beim Schreiben hat Aya Cissoko geübt so wenig an Luft zu verbrauchen wie möglich, ohne dass ihr Körper leidet. Dadurch wollte sie sich ins Bewusstsein führen, warum wir zuweilen schweigen, plötzlich wütend werden und wie wir unser Leiden zu oft in Einsamkeit ertragen. Denn wenn uns die Worte fehlen, wir um diese ringen und letztendlich doch das Risiko eingehen, etwas zu sagen, zu etwas Gesagtem gegenhalten, kann dies zu neuer Wut, zu neuem Leid oder zu neuer beherrschter oder unbeherrschter Stille führen. Aya Cissoko nimmt sich die Kraft und schreibt. Zusammen mit ihren früheren Büchern „Danbé“ und „Ma“ ergibt das neue Werk ein Triptychon. Sie schreibt ihre Familiengeschichte weiter und aus einem Brief an die Tochter wurde dieses Buch. Erneut verneigt sie sich, da sie selbst Mutter geworden ist, vor ihrer Mutter, die für sie eine Heldin ist. Der Titel ist ein Satz ihrer Mutter. Kein Kind von Nichts und Niemand. Man ist jemand und ist stets Teil einer ganzen Geschichte. Diese Geschichte erzählt Aya Cissoko in ihren drei Büchern, die jedes für sich gelesen werden können.  

Aya Cissoko versucht, die Wurzeln ihrer eigenen Geschichte und den in der Gesellschaft verwurzelten Rassismus zu fassen. Ein Text, der sich an die Tochter wendet, aber durch die Intensität uns alle angeht. Wieweit trägt jede Generation die Geschichte weiter und kann sich von der vorherigen Generation abgrenzen? Haben wir den Kolonialismus und den Holocaust überwunden? Aya Cissoko wurde 1978 als Kind malischer Eltern in Paris geboren. Sie schreibt über die Vorurteile und Urteile, denen schwarze Menschen täglich ausgesetzt sind. Die Hautfarbe, der Körper und die Existenz als schwarze Frau sind politisch. Somit wird das Leben ein beständiger Überlebenskampf. Gleich einem Boxkampf, in dem man angreift, sich schützt und den Gegner tänzelnd aus der Reserve lockt. Sie will lernen, den Hass zu kanalisieren. Dies gelingt Aya Cissoko durch das Boxen. Diese Art, den Schmerz auszudrücken, macht sie erfolgreich und zwei Mal holt sie sich den Weltmeistertitel im Kickboxen. Durch einen Halswirbelbruch gezwungen, sucht sie neue Kanäle und findet zur Literatur. Ihre Geschichte ist es, die fesselt. Ihr erstes Buch „Danbé“ wurde auch bereits mit dem Titel „Wohin ich gehe“ verfilmt.

Mit acht Jahren wird ihre Familie Opfer eines Brandanschlages, in dem ihr Vater und die Schwester verbrennen. Schlagartig verändert sich alles. Der Rassismus prägt die Welt und Aya rebelliert gegen alles. Gegen Traditionen, Ungerechtigkeit und die Politik. Sie wird als schwarze Frau als solche angesprochen und schreibt über diese tief empfundene Schande, die diskriminierte Menschen empfinden. Sie analysiert dabei die Gesellschaft, die Assimilationspolitik und die Hierarchien in der sozialen Umgebung und in den Gedanken der Menschen. Ein Buch über Analysen, Empfindungen und die familiäre Spurensuche. Beginnend bei ihren Vorfahren, dem Stamm der Bambara in Mali, die gegen die Kolonialisierung gekämpft haben und der aktuellen französischen Gesellschaft. Der Vater ihres Kindes stammt aus einer Familie aschkenasischer Juden und somit berührt auch der Holocaust diese Geschichte. 

Ein bewegendes Buch, das einen aufwühlt und von einer wichtigen Stimme der Gegenwartsliteratur verfasst wurde. Ein Werk über Ausgrenzung und Diskriminierung. Ein Aufruf, den persönlichen Mut zu finden, nicht mehr zu schweigen. Aus dem Französischen übersetzt wurde das Buch von Beate Thill.

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Richard Russo: „Mohawk“

Dieser Roman ist ein großer Wegbereiter für das Gesamtwerk von Richard Russo. Es ist der Debütroman, der jetzt zum ersten Mal in der deutschen Übersetzung erscheint. Übersetzt von Monika Köpfer. Der erste Roman zeigt bereits den literarischen und tiefgründigen Blick des Pulitzer-Preisträgers. Richard Russo blickt stets auf das kleine Leben, um ein großes Gesamtbild zu entwerfen. Seine Betrachtungen verweilen oft in amerikanischen Kleinstädten, um daraus eine Gesellschaftsanalyse zu kreieren. Dabei schwanken die Betrachtungen, Charakterisierungen und Dialoge zwischen Drama und Komik. Russos Romane und Erzählungen sind geprägt durch Melancholie, Witz, Tiefgang und Empathie. Auch sein Erstlingswerk „Mohawk“ ist bereits durch das großartig gezeichnete Personal ein bedeutender amerikanischer Roman und, wie John Irving sagt, „zu gut für einen ersten Roman“.

Die Handlung spielt in Mohawk, Upstate New York, Ende der Sechzigerjahre. Die Stadt liegt im Hinterland und alles, was diese Ortschaft einst lebens- und liebenswert machte, verfällt. Die Menschen, die hier noch verweilen, haben sich arrangiert mit den gegenwärtigen einfachen Lebensbedingungen. Mohawk verdankte seinen damaligen Aufstieg der Lederindustrie. Doch die Landschaft und die Bewohner zahlen ihren Preis für den damaligen Aufschwung. Das Wasser scheint toxisch zu sein und auch in den Gemütern keimt stets etwas Misstrauisches. Die Lederproduktion hat sich immer weiter reduziert und nun herrscht mehr Armut als erhoffter Wohlstand. Auch ist hier die Krebsrate um einiges höher als im Rest von Amerika. Wer hier lebt, hat gelernt, dass man sich große Zukunftsträume nicht leisten kann.  

Anne Grouse ist mit ihrem Sohn zurückgekehrt. Sie hatte Pläne, doch ist sie nun wieder ein Teil der Gemeinde Mohawk. Ihre Eltern leben dort und mit ihrer Mutter hat sie stets andere Meinungen über die Pflege ihres kranken Vaters. Ihre Ehe mit Dallas Younger liegt in Scherben und sie muß sich um ihren Sohn, Randall, kümmern. Randall ist eigentlich ein guter Schüler, doch will er nicht in der Kleinstadtschule auffallen und schreibt bewusst Fehler in seine Tests, damit er nicht zu strebsam wirkt. Doch fällt er dennoch auf und bekommt in der Schule Probleme. Bereits als junge Frau hatte Anne Dallas nicht so sehr geliebt wie Dan Wood, den späteren Ehemann ihrer Cousine. Dallas spürt die fehlende Liebe und verliert sich in der technischen Zuneigung zu seinem Auto und dem Glücksspiel. In Dans Leben gab es einen großen Schicksalsschlag, der ihm gesundheitlich weiterhin zu schaffen macht. Auch die Krankheit von Mather Grouse, Annes Vater, hat ihren Ursprung und zeigt sich stets atemlos, wenn Rory Gaffney, ebenso ein damaliger Lederarbeiter, die Szenerie betritt. Eine unterschwellige Fehde zwischen den Familien Grouse und den Gaffneys scheint sich erneut zuzuspitzen. Doch Randall befreundet sich mit dem geistig zurückgebliebenen Jungen von Rory, den alle nur Wild Bill nennen. Alle leben nicht das Leben, das sie sich erträumten. Dallas sorgt sich nach dem Tod seines Bruders um dessen Frau und fühlt sich bei ihr mehr als heimisch. Anne hat ihre große Liebe bisher nicht aufgeben können und auch Wild Bill ist heimlich verliebt.

Eine Kleinstadt, in der sich wahrlich alle um sich selbst drehen, um einigermaßen im Leben Fuß fassen zu können. Im Mittelpunkt ist der Mohawk Grill, in dem sich alle zum Trinken oder Glücksspiel treffen. Der Glaube an ein besseres Leben webt durch die Gemüter und gibt doch nur Nahrung für Zweifel und Niedergeschlagenheit in der verfallenden Kulisse der Kleinstadt. Doch gibt es auch stets lebensspendende Hoffnung und ganz viel Humor. Ab der ersten Szene ist man mit den Charakteren an Mohawk gefesselt. Man horcht genau hin und beginnt stets zu schmunzeln und zu grübeln. Was Russo perfektioniert hat, und dies bereits im Debütroman, ist der melancholische Witz – hier schließt sich erneut der Kreis zu John Irving.

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Martin Lätzel: „Bruno Topff“

Martin Lätzel, u.a. Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek, hat ein Buch geschrieben, das sich mit einem Schneider beschäftigt, der Revolution machte und zur Legende wurde. Bruno Topff wurde in Potsdam geboren. Sein Vater, Arved Topff, war als Baumeister mehr oder weniger erfolgreich und erhoffte sich für seinen Sohn eine gesicherte Zukunft und meldete ihn zur Schneiderlehre an. Denn Kleidung benötigen die Menschen in guten Momenten, Ausbesserungsarbeiten in schlechten Zeiten. Bruno Topff wurde Oberschneidergast, wie man damals einen Matrosen bezeichnete, der für die Schneiderwerkstatt innerhalb der Marine zuständig war. Sein Einsatzgebiet war die Insel Alsen. Alsen ist eine Insel im Süden Dänemarks, die zum Herzogtum Schleswig gehörte und später zu Preußen. Bis heute ist sie Teil des Dänischen Königreiches und heißt eigentlich Als.

1918 in Kiel meutern die Matrosen und ihr Protest erreicht die abgelegene Marinekaserne Sonderburg. Bruno Topff ist schwer lungenkrank und liegt in einem Lazarett, als ihn die Nachricht des Aufstandes erreicht. Der Legende nach sprang er aus dem Fenster und setzte sich für eine friedliche Revolution ein. Vieles ist überliefert und einiges bleibt eine Sage. Dem gesellschaftlichen Gedächtnis entnommen soll Bruno Topff die „Republik Alsen“ ausgerufen und sich selbst als deren Präsident tituliert haben.

Martin Lätzel vermischt nun historische Fakten und die Legenden. Er vermengt diese literarisch zu einem Spiel aus Sachbuch und Roman. Mit viel Wissen, Hingabe und Humor erzählt er die Geschichte eines Schneiders der eine friedliche Revolution machte.

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Emmanuelle Fournier-Lorentz: „Villa Royale“

Eine Familie, die ständig unterwegs ist und, wie sich später zeigt, sogar auf der Flucht lebt. Wir lernen sie auch gleich auf der Straße kennen. Immer in der kalten Jahreszeit ziehen sie um. Die Mutter und Charles sitzen im Auto vorn und Victor und die Erzählerin, Palma, hinten. Victor spielt während der Fahrt Schach gegen sich selbst. Charles redet während der langen Fahrten beständig von seinen Erinnerungen an den Vater. Wirkliche Zeit für die Trauer mag nicht aufkommen, denn ständig sind sie unterwegs. Palma ist gerade elf Jahre alt als ihr Vater unerwartet stirbt. Seit dem Verlust führt sie mit ihrer Mutter und den beiden Brüdern ein unbeständiges Leben. Nie wissen sie, wohin es sie auf Geheiß der Mutter hin verschlägt.

Palma erzählt rückblickend von ihrem Leben und der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Man hört ihr von der ersten Zeile gerne zu und verfolgt gespannt, was es mit ihrer beständigen Umtriebigkeit auf sich hat. Eine Geschichte, die auch noch einige Überraschungen bereit hält und an Spannung zunimmt. 

Das Ziel ihres ersten Umzuges erfahren sie zwei oder drei Monate nach dem Tod ihres Vaters. Ganz wie nebenbei berichtet die Mutter eines Abends, dass sie nach La Réunion, auf eine kleine Insel neben Madagaskar gehen. Eine Bekannte, die bereits dort lebt, hat sich auf der Insel um einen Job und ein Häuschen gekümmert. Das anfängliche Entsetzen der Kinder weicht der exotischen Kulisse. Vorerst leben die Kinder in ihrer Freiheit und können versuchen, die Trauer zu verarbeiten. Der Job reicht aber nicht wirklich aus und Palma muss auch wieder zur Schule. Gerade als sie sich damit abgefunden und Schulmaterial organisiert hat, geht es aber zurück nach Frankreich.

Immer nur für kurze Zeit bleiben sie an einem Ort. Das ganze Leben verpackt in Koffern und im Auto. Mit ihnen reist stets die Trauer und die Melancholie. Doch hat die Flucht einen Ursprung. Der verstorbene Vater hatte zwielichtige Geschäfte und enorme Schulden gemacht. Ein Gläubiger aus dem Milieu will sein Geld und setzt die Familie unter Druck. Die Geschwister schmieden einen Plan, wie sie aus der Bredouille herauskommen und deuten das Gerechtigkeitsempfinden nach eigenem Ermessen. Der kluge Victor und sein Bruder, Charles, der sich zum Glückspiel hingezogen fühlt, bilden mit ihrer Schwester eine Gemeinschaft, die durch das Abenteuer, die Trauer und den ständigen Roadtrip unzertrennlich wird. Doch kommt der Moment der Veränderung, der Trennung und Palma muss ihren Platz finden.

Ein Roman wie ein guter Roadmovie, der immer mehr an Tempo zunimmt und der Melancholie eine junge und trotzige Stimme entgegenhält. Die Erzählerin und ihre Geschwister sind nahbar und so empathisch gezeichnet, dass man gebannt ihren Werdegang verfolgt. Voller Hingabe zu den Figuren und der Geschichte wird der Roman sehr lebendig erzählt. Der Trauer steht auch ein subtiler und feiner Humor gegenüber, der der Handlung und der Entwicklung noch mehr Tiefe verleiht. Ein Roman über Familienzusammenhalt. Geprägt durch Trauer, Flucht und das Leben unterwegs. Der Debütroman von Emmanuelle Fournier-Lorentz wurde von Sula Textor aus dem Französischen übersetzt.

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Die Literaturzeitschrift „Literatur und Kritik“

Eine Literaturzeitschrift, die die Vielfältigkeit der Literatur darstellt. „Literatur und Kritik“ erscheint jährlich in fünf Doppelnummern. Die aktuelle Ausgabe beinhaltet Beiträge zum Themenschwerpunkt Österreich. Passend zur Leipziger Buchmesse, auf der sich Österreich als Gastland präsentieren durfte. Der Messeslogan „meaoiswiamia – Doch: Wer ist `Wir´“? verwirrt und will doch zeigen, was Literatur vermag.  

Das Magazin ist ein gelungener Rundumschlag. Neben Kulturbriefen, Erinnerungen und Lyrik wagt es das Wechselspiel von Literatur zur Kritik und zurück zur Literatur. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Reiseführer Österreich. Dies bedeutet, dass sich Autorinnen und Autoren in verschiedenen Landstrichen poetisch niederlassen und die Landschaft in Worte kleiden, um uns jene Regionen vor Augen zu führen. Wir beobachten zum Beispiel Wolken, die auf und ab ziehen. Der Blick wird dabei von den Bergmassiven eingefangen und wandert ab von jenem Gipfel, der einen Schatten ins Tal wirft. Literatur wird dabei zu einem Tor und wir dürfen durchschauen, wenn nicht sogar durchschreiten, um Neues zu erleben. Dabei wird ein gesellschaftlicher Wunsch, der fast schon neurotisch wirkt, gestreift. Der Wunsch, niemals nur in der Stadt oder auf dem Land zu leben. Wir wollen stets alles haben. Da reicht ein Blick in die Berge, um uns zu erniedrigen oder das Beobachten einer Ameise, die uns zeigt, wie weit wir es letztendlich auch nicht gebracht haben.

Das Magazin regt an und weckt Neugier. Auf Sprache, Klang und Wissen. Die Literatur aus Österreich wird meist innerhalb der geschichts-und literaturwissenschaftlichen Betrachtung des deutschsprachigen Raumes eingeordnet. Dabei kann man hierbei doch auch andere Entwicklungen und Tendenzen erahnen. Das Magazin zeigt, wie reich die ganze Literaturwelt ist und stets divers, humorfähig, selbstkritisch und sprachbegabt. Literatur kann dabei aber nicht alles ablichten, sondern zeigt, wie auch im letzten Beitrag des Heftes, dass das Leben niemals abgeschrieben werden kann. Nach der Literatur wird über Literatur gesprochen. Bücher werden besprochen und fangen einen aktuellen Einblick in die Welt der Romane und der Lyrik ein (zuweilen gibt es Überschneidungen zum Leseschatz).

Die Literaturzeitschrift „Literatur und Kritik“ wurde 1966 von Gerhard Fritsch gegründet. Seit 1991 hat die Redaktion ihren Sitz in Salzburg und wurde 32 Jahre vom Verleger Arno Kleibel und dem Schriftsteller Karl-Markus Gauß herausgegeben. Seit 2023 gibt Arno Kleibel die Zeitschrift mit der Autorin Ana Marwan, die zuletzt mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, heraus. Ana Marwan verantwortet „Literatur und Kritik“ nun als alleinige Chefredakteurin. Sie schreibt in der Einführung über Identität, Herkunft, Entwurzelung und fragt, wo sich überhaupt die Grenzen des Ortes ausloten lassen, an dem wir aufgewachsen sind?

Alles in diesem Magazin ist ein schöner Wegweiser und ein gedanklicher sowie kunstvoller Reiseführer. Reisen durch und mit Literatur ist einer der schönsten Wege, die man gehen kann. 

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Joachim Schnerf: „Das Cabaret der Erinnerungen“

Joachim Schnerf erzählt erneut über das Erinnern. Wie in seinem Roman „Wir waren eine gute Erfindung“ ist es der Moment des Wartens auf das Eintreffen der Familie, um den Erzähler innehalten und auf die Familiengeschichte blicken zu lassen.

Es ist ein poetisches Buch, das die Geschichte einer jüdischen Familie in Frankreich erzählt. Dabei verwischen sich diverse Grenzen, die der Länder, die der Zeiten und die Realität mit der Kraft der Fantasie. Wie kann ein Begreifen des unfassbaren Ausmaßes der Shoah erfolgen, gerade bei den Folgegenerationen, die es nicht erlebt haben und jetzt die Überlebenden verschwinden? Werden die kommenden Generationen noch glauben können? Dies sind die Hauptfragen, die sich der Erzähler und somit sein Autor stellt.

Ein neues Leben ist geboren. Samuel wird morgen seine Frau und seinen neugeborenen Sohn von der Entbindungsstation abholen. Das neue Leben und das Lebensglück lassen ihn sich an seine Kindheit erinnern. Er denkt an die Geschichte seiner Familie. Er möchte unbedingt, dass sein Sohn zukünftig alles weiß, damit dieser es weitertragen kann. Er reflektiert, wie er das lange Ungesagte erfahren und verarbeitet hat. Bei der Beerdigung seines Großvaters begegnet er zum ersten Mal dessen Schwester, seiner Großtante Rosa. Nach der Beisetzung waschen sie sich die Hände und er sieht ihre Tätowierungen. Sie ist eine Auschwitz-Überlebende und hat Europa verlassen. Sie lebt in Texas. Samuel ist noch jung und das Bild, das er sich von der Wüstenlandschaft von Texas macht, ist den Cowboygeschichten entsprungen. Mit diesen Wildwest-Fantasien spielt er das Familiendrama mit seiner Schwester und seinem Cousin weiter. Rosa hat lange geschwiegen, doch dann wird sie im Radio interviewt und ein Briefwechsel mit Samuel lässt ihn erst Jahre später das ganze Ausmaß erahnen.

Rosas Geschichte handelt vom Pogrom in Polen, der Flucht nach Frankreich und Deportation nach Auschwitz, als sie zwölf Jahre alt war. Der Gräuel im Lager ist ein beständiger Geruch des Todes. Der wahre Schrecken offenbart sich durch eine Freundin, die eine Rolle zwischen Geburt und Sterben einnimmt. Rosa überlebt und gründet das Cabaret der Erinnerungen. Sie gründet in Texas ein Shtetl und gibt den Verstorbenen eine Stimme. Dieses Camp im Camp regt die Fantasie von Samuel an und er will als Kind diesen Ort finden und in seiner Vorstellungskraft werden die Vogesen zur amerikanischen Wüste. Seine persönliche Entwicklung ist durch die Pfadfinder geprägt, die damals der Résistance beigetreten waren. In einem Zeltlager hat er seine Frau kennengelernt, die er nun am kommenden Morgen mit seinem Sohn abholen wird. Seine Erinnerungen erlebt er am Abend vor seiner Abfahrt und es verwischt sich hierbei die Geschichte mit seinen Fantasien, die ihm als Kind damals den Schrecken nahmen. Gibt es das Cabaret wirklich oder ist es ein reines Bild der Hoffnung, dass sich solche Schrecken niemals wiederholen mögen?

Der neue Roman ist ein erneut vom Autor entfachtes Gefühlschaos. Mit einer enormen Dichte werden die Handlungsstränge vorgetragen und in knappen Szenen erzählt. Der Roman lebt von seiner sehr poetischen Sprache und den daraus resultierenden Bildern. Ein ergreifender Text, der Zartes neben den Schrecken stellt und mit Schönheit und Humor den Horror nicht verklärt, sondern in sich auflöst, um ihn für die kommenden Generationen zu erhalten. Der Roman wurde aus dem Französischen von Nicola Denis übersetzt.

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Mona Harry: „Ins Blaue“

Mona Harry hat sich auf ihr Rad geschwungen und uns besucht. Sie ist bekannt durch ihre Texte, besonders ihre Lyrik. In der Poetry-Slam-Szene ist sie nicht mehr wegzudenken und ihre Liebe zum Norden ist stets spürbar. Ihr Text „Norden“ ging auf YouTube viral und machte sie bekannt.

Heute ist sie zu uns geradelt, weil sie ihr Buch „Ins Blaue“ mitgebracht hat. (KJM Buchverlag). Das Buch beinhaltet zwanzig Radtouren im Land zwischen den Meeren. Sie erkundete die großen und die kleinen Küsten und das Landesinnere. Dabei hat sie besondere Ecken und sehr schöne Geheimtipps gefunden. 20-mal Schleswig-Holstein: Sylt, Amrum, Föhr, St. Peter-Ording, Nordstrand, Friedrichstadt, Eider, Brunsbüttel, Nord-Ostsee-Kanal, Schlei, Aukrug, Westensee, Kiel, Preetz, Selent, Fehmarn, Eutin, Scharbeutz, Bargteheide, Wedel, Stormarn, Ratzeburg. Dabei gilt ihre Liebe der landschaftlichen Vielfalt Schleswig-Holsteins. Ergänzt werden ihre Texte durch Tourenkurzbeschreibungen und Steckbriefe, inkl. Möglichkeiten die Radtouren zu verkürzen, Karten und Detailkarten.

Neben den erprobten Touren nimmt sie sich im Buch Zeit für Anekdoten und somit lernen wir das Land, die besonderen Radwege und sie selbst gut kennen. Ins Blaue macht Mut sich zu verfahren, sich neu zu orientieren und bestärkt die Liebe zum Radfahren. Auch #HalloLeseschatz war ihr nicht ganz unbekannt …

Eine weitere Liebeserklärung an den Norden! Also ab ins Blaue! Das Blau ist sehr wandlungsfähig und wie die Natur stimmungsabhängig. Wind und Wetter sind dabei nur typische Wegbegleiter.

Das Gespräch ist auf Leseschatz-TV im Kanal der Buchhandlung Almut Schmidt auf YouTube zu finden.

Im Kanal stelle ich meine Leseschätze als Filmchen vor und habe bereits viele tolle Gäste begrüßen dürfen. Also keinen Beitrag verpassen und den Kanal abonnieren…

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Clara Dupont-Monod: „Brüderchen“  

Ein berührender Roman, der uns auf sehr einfühlsame Weise die verschiedenen Perspektiven des Lebens aufzeigt. Das Brüderchen ist ein Kind, das seine älteren Geschwister in den Schatten stellt und die beiden älteren Kinder für sich einen Weg finden, damit umzugehen.

Erzählt wird die Geschichte einer Familie in Frankreich. Als das dritte Kind geboren wird, fällt vorerst nichts Ungewöhnliches auf. Es wirkt als sei das neue Brüderchen ein ganz gewöhnlicher Junge. Nach Monaten bemerken sie, dass die Augen stets wandern und nichts zu fixieren scheinen. Neben der Blindheit hat das Kind auch keine Körperspannung und der Kopf must stets gehalten werden. Es reagiert auch nicht körperlich und greift oder bewegt sich kaum. Durch einen Genfehler wird das Kind ständig in dem Stadium verbleiben und keine große Lebenserwartung haben.

Die beiden Geschwister reagieren unterschiedlich und gehen dadurch ganz andere Wege in ihrer Entwicklung. Der ältere Bruder, ein Abenteurer und lebenshungriger Junge, geht ganz in seiner Liebe und Fürsorge auf. Er kommt direkt nach der Schule heim und richtet seinen ganzen Alltag nach den Bedürfnissen seines Bruders aus. Da die Situation die ganze Familie überfordert, kommt das kranke Kind letztendlich in ein Heim, das von einem Orden geführt wird. Dies empfindet die Schwester als kleine Befreiung, denn sie nimmt das Brüderchen als Räuber ihres eigentlichen Bruders war. Sie ringt stets mit ihrer Wut. Das hilflose Wesen, in dessen Schatten sie nun leben muss, trennt sie gefühlt vom Rest der Welt. Sie rebelliert und kämpft mit sich, dem Umfeld und den Situationen.

Drei Kapitel und zwei Hauptentwicklungen, die gänzlich anders mit ihren Emotionen umzugehen lernen. Die Liebe, die Wut, der Verlust  und die Scham sind die Wegbegleiter. Am Ende, im dritten Abschnitt, taucht ein weiteres Leben auf, das auch die Präsenz der ganzen Vorgeschichte zu spüren bekommt. Auch wir, die die Zeilen lesen, bleiben nie unbeteiligt. Der Text bewegt und erzeugt eine ganz enge Bindung zu den Charakteren. Der Schmerz ist spürbar und doch spendet der Roman ganz viel Hoffnung und Liebe. Ungewöhnlich ist die Perspektive. Der auktoriale Erzähler ist ein beständiger, harter und doch brüchiger, der seine Geschichte gegenüber den Emotionen fixiert. Es sind die Steine, die festgemauert einen Schutz für die Familie bilden. Steine stehen somit den empfindsamen Wesen gegenüber. Der Erzähler ist insofern bereits eine Metapher der Emotionalität. Das Lebendige steht somit dem Fixierten gegenüber. Etwas, das Schatten wirft, gibt dem Raum Tiefe und verdeutlicht die lichtvolle Szenerie. Dieser Vergleich mit dem Schatten wird im Roman auch am Anfang mit einem Gemälde verglichen. Ein Schatten, der bewusst eingesetzt wurde. Ein sehr bewegender Familienroman. Aus dem Französischen übersetzt von Sonja Finck.

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Alexander Rösler: „Der Mann hier unten“

Was passt zu uns und wohin gehören wir? Chaos, Ordnung, Land, Stadt sowie unten oder oben? Sind wir ein Teil der Natur oder haben wir uns immer weiter von dieser entfremdet? Was ist denn das Chaos? Natürlich wuchernde Flora oder ein gepflegter Garten? Der Mensch mag zuweilen tierischer als jedes Tier erscheinen und wähnt sich oft doch sehr erhaben. Alexander Rösler lädt zu einer Sprachparty ein, die durch knapp gesetzte Szenen zu einem präzisen Gesellschafts-Event ausufert. Mit guter Beobachtung entwirft Rösler mit nur wenigen Sätzen ganze Welten und wirft uns kopfüber in diesen Spaß.

Zu erwähnen sei auch noch, dass der Rückseitentext des Buches Absagen von renommierten Verlagen ziert. Absagen, die sich eigentlich wie Lobeshymnen lesen und verwundern, warum diese Sätze in Absagen formuliert wurden. Zum Glück ist das Werk ja dennoch erschienen und passend von Ulrike Küster illustriert.

Die Handlung wird durch verschiedene Perspektiven erzählt. Jedes Kurzkapitel trägt die Überschrift der agierenden Figuren. Menschen, Menschtiere und Hunde wissen hierbei einiges zu berichten.  Felicitas hat einen Hof, den sie jetzt als Retreat betitelt, geerbt. Diesen renoviert sie mit ihrem Künstlerfreund Clemens und sie wollen demnächst ein Einweihungsfest feiern. Ihr Vater lebt in einem Heim und hat weiterhin noch Pläne. Er wird zuletzt die Party nur kurz aufsuchen, um die Szenerie letztendlich ganz zu verlassen. Ein Freund geht in den Ruhestand und reist nach Rhodos, um dort eine kleine Bleibe zu erstehen. Doch bevor er in Griechenland Fuß fassen kann, ist er Felicitas und Clemens bei der Hofgestaltung behilflich. Auch eine Freundin mit ihrem Sohn taucht auf und beide, besonders der Sohn, fixieren die Geschehnisse bildreich für die Nachwelt.

Die Handlung beginnt beim Einkauf. Felicitas begegnet einem Fuchs. Keinem echten, nur einem Mann, der sie an einen erinnert. Er betritt nach ihr die Bäckerei und möchte Reste erstehen. Aus unerklärlichen Gründen ist Felicitas von dieser Erscheinung fasziniert und folgt dem Mann, den sie nun auch Fuchs nennt. In einer ruhigen Gegend hebt er einen Kanaldeckel und geht nach unten. Dort lebt er, in der Unterwelt der Stadt. Er hat sich von der Gesellschaft und dem obigen Leben entbunden. Neben dem Abwasser im Trockenen hat er sich mit Kinderwagen, Kerzen und Gerümpel eingelebt. Er ist Mathematiker und hatte für eine Versicherung diverse Logarithmen geschrieben und berechnet. Auf einem Firmenausflug kommt er durch eine berauschende Zeremonie aus seiner Bahn und verschwindet nach unten und pflegt dort selbst seine Rituale, die er nun auch bei Felicitas anwendet, die ihn öfters aufsucht. Auch kommt sie auf die Idee, ihn zu der Einweihungsparty als Hauptattraktion einzuladen. Zum Fest erscheinen alle und der Höhepunkt steht bevor. Denn auch der Fuchs, der gebacken hat und seine Show ganz am Ende der Feier ausführen wird, ist da.

Er, der Fuchs, der unter unseren Füßen lebt, bringt alles durcheinander. Er stellt die Welt auf den Kopf und der Horizont verschiebt sich. Drogen, Visionen und Lebensziele vermischen sich und formen eine kunterbunte Welt. Dieser Roman vertieft „Die dunkle Seite des Mondes“ von Suter und nascht von „Wilhelms Pilz“, den uns bereits Michael Engler serviert hat. Die Handlung berauscht, verwirrt und regt an. Die Charaktere und ihre Geschichten sind fein und klug entworfen und treten sehr lebendig aus den Zeilen und machen es sich in unseren Köpfen bequem.

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