
Der Titel ist ein Begriff, der für Schablone, Gestalt oder Form steht. Eine Fasson, in die ein Lebewesen hineinwächst. Skabelon kann aber auch im Negativen für Missgestalt oder Missgeburt benutzt werden.
Im Buch geht es um Zugehörigkeit, um die Flucht aus der Realität in die Phantasie und das Bild der Vertreibung aus dem Paradies. In diesem Buch lebt in der gesamten Schönheit ein märchenhafter Schrecken. Etwas Böses lauert beständig in den Zeilen. Dieses Böse ist es, das die junge Heldin spürt, unterbewusst wahrnimmt, aber nicht sieht oder einer Klassenkameradin später gegenüber wirklich benennen kann. Das kleine Mädchen begreift schnell, dass alles im Leben verschwinden wird. Früher oder später. Selten ist man ein bewusster Zeuge dessen, was tatsächlich geschieht.
Eine Familie lebt im Wald, abgeschieden vom Rest der menschlichen Welt. Die Erzählerin ist am Anfang der Geschichte gerade erst fünf Jahre jung und wächst in das Umfeld hinein und passt sich an. Sie lebt mit ihren vielen Geschwistern und der Mutter in einer schäbigen Behausung. Der Vater, ein Holzarbeiter, lebt, wenn er mal da ist, meist in einem alten Bus vor dem Haus. Liebe ist, wie auch die Nahrung, eine Mangelware. Die Mutter kann keine Zärtlichkeit oder Geborgenheit geben und verbringt ihren Alltag oft in der Badewanne.
Die Ich-Erzählerin lernt das Leben aus Sicht der Natur kennen. Tiere und Pflanzen versteht sie. Als eines Tages ein Holzfäller von einem Baum erschlagen wird, sind ihre Gedanken vorrangig bei der alten, gefällten Linde. Ihre Empathie gilt an erster Stelle dem Tierreich und sie versucht den Menschen in ihrem Umfeld, durch einen Tierbezug besser zu verstehen. Am Ende lernt sie, dass es für manche Menschen keine natürliche Entsprechung gibt und der Mensch, das gröbste Raubtier, einfach nur ein Mensch ist. Die Mutter wird wieder schwanger und hofft, dies möge das letzte Kind sein. Der Vater gibt zu verstehen, dass es an ihr liege. Die älteren Geschwister, die immer mehr die Familiensituation begreifen, wollen dort fort. Nach der Schule ziehen die meisten peu à peu in die Stadt oder ganz weg. Alleine bleiben die Jüngsten, die in der Einsamkeit vergehen. Auch in der Schule finden sie keinen Anklang und werden ausgelacht. Sie sind unter Menschen allein.
Der Großvater kommt oft die Mutter besuchen. Er und seine Frau sind auch nicht die liebenden Großeltern, sondern ihr wahres Gesicht erkennt die Erzählerin bei einem dortigen Besuch. Später auf einer Hochzeit werden ihr die ganzen Verbindungen bewusst und sie versteht. Das Paradies im Wald verwandelt sich. Die äußere Helligkeit, die der kindlichen Wahrnehmung entsprach, zeigt eine innere, erwachsene Dunkelheit.
Das Kind flüchtet sich stets in die eigene Phantasie, die belebt ist von der Natur, der Magie und dem Märchenhaften. Unterbewusst erkennt sie viel, kann es aber nicht bewusst sehen. Sie lernt in Kindertagen die Natur als Fluchtraum zu nutzen. Erst sind es die Schlangen, die etwas Kriechendes, Unheimliches in ihr Blickfeld wandern lassen. Mit dem Erwachsenwerden und dem Bezug zur Menschenwelt erwacht ihre Unsicherheit und ihr Leben gerät in eine Schieflage.
Ein wunderschöner, trauriger Roman. Die Natur ist sprachlich so eingefangen, das diese beständig im Leser wächst. Die seelische Armut, die der Fülle des Waldes gegenübersteht, nimmt einen gefangen und die Erzählerin wächst in ihre raumgreifende Gestalt hinein. Mit viel Empathie wird der Lebensumstand im Wald beschrieben. Die Geschwister verblassen immer mehr, wenn sie erwachsen werden. Die Erzählerin bleibt zurück, in der Handlung, im Text, im Kopf und im Herzen des Lesers. Eine aufwühlende Lektüre, die durch eine tiefgründige und melancholische Schönheit getragen wird.
Der preisgekrönte Roman aus Norwegen wurde von Andreas Donat übersetzt.
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