
Der Roman lebt von der Landschaft, die einen fast zu verschlingen droht. Das üppige Leben und die Kraft der Natur stehen der inneren Leere des Menschen gegenüber. Eine Welt, in der wir das gröbste Raubtier sind, gibt viel Raum für psychologische Betrachtungen.
Carl Nixon, geboren 1967 in Christchurch, Neuseeland, wurde durch Kriminalromane bekannt. Er schreibt aber auch großartige und ausgezeichnete Romane und Kurzgeschichten. Seine Perspektiven sind vielschichtig und greifen stets ineinander, so auch in „Kerbholz“. Dabei webt sich die Landschaft Neuseelands kunstvoll in die Handlung ein und verbleibt niemals als eine einfache Kulisse. Das Menschliche, das Düstere erhält dadurch einen natürlichen Rahmen. Die Bedrohung durch die Wildnis wirkt auf den ersten Blick beklemmend, um dann letztendlich das größte Raubtier zu präsentieren.
Eine Familie aus London ist gerade nach Neuseeland gezogen, weil der Vater Karriere machen möchte und hier eine neue Stelle erhalten hat. Bevor er seine Arbeitsstelle antritt, möchte er mit seiner Frau und den Kindern das Land kennenlernen und mit einem Mietwagen Neuseeland bereisen. Bei einer verregneten Nachtfahrt kommt er von der Straße ab und das Auto fliegt mit den schlafenden Kindern die Böschung herab in den Fluss. Nur die drei Kinder auf dem Rücksitz überleben. Das Mädchen ist es, die sich sofort, trotz des Schocks, um die Brüder kümmert. Einer ist schwer am Fuß verletzt und bekommt starkes Fieber und der andere hat seinen Kopf gestoßen und wirkt apathisch. Sie finden eine Höhle aus Wurzelwerk und versuchen Wärme mit Hilfe der Kleidung des Vaters zu erzeugen. Die Suche nach der Straße oder nach Nahrung bleibt erfolglos. Durch den Schock und den Hunger bekommt die Natur immer mehr Unheimliches und sie meint Menschen oder Gespenster zu sehen. Dies passiert im Jahr 1978.
2010 erhält die Schwester von der beim Unfall verstorbenen Frau einen Anruf. Bisher ist der Verbleib der Familie ungeklärt. Oft hat sie die Familie gesucht, doch wurden sie dann später für tot erklärt und es gab sogar eine Trauerfeier. In Neuseeland wurde nun eine Leiche gefunden. Der Junge muss noch einige Jahre überlebt haben. Bei ihm fand man die Uhr des Vaters und ein Kerbholz. Ein Kerbstock ist eine Zählliste, um Zeiten festzuhalten oder er diente dazu, Schuldverhältnisse zu fixieren. Somit kommen Fragen auf und die Geschichte bahnt sich erneut in das Leben der Schwester der Verstorbenen. Wo hat er Junge überlebt und wer hat womöglich mit ihm überleben können? Was ist damals passiert?
Die Handlung wird erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven und wechselt in den Zeiten. Die Suche und der Kampf der Kinder, die versuchen in der Natur zu überleben. Die Kinder werden gefunden. Ein barscher, wilder Mann mit ungepflegten Dreadlocks und seinen Hunden nimmt sich der Kinder an. Wenn sie überleben wollen, sollen sie mit ihm kommen. Sie landen auf einer heruntergekommenen Farm und es stellt sich heraus, dass den vermeintlichen Rettern günstige Arbeitskräfte sehr gelegen kommen.
Der Mensch als anpassungsfähiges Wesen in seinem Kampf ums Überleben und um die Freiheit in einer überladenen Natur. Ein psychologischer Spannungsroman, der die Landschaft heraufbeschwört und diese als Gegenstück zu den Protagonisten stellt. Der Reichtum steht der inneren Dürre gegenüber. Im Text steht mehr als auf den ersten Blick ersichtlich. Ein packendes Werk über Familie, Überleben und die Wildheit im Umfeld und in der Psyche. Der Roman wurde aus dem Englischen von Jan Karsten übersetzt.
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