Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan“

Dieser Roman webt ein Spiel aus Zeiten, Geschichten, Wahrheit und Fiktion. Dabei entsteht ein Teppich, der einem großartigen Flickwerk gleicht und bereits auf dem ersten Blick offenbart, wie klug, skurril, humorvoll und wunderbar das Buch ist. Ein verspielter Text, denn er kreiert Wort-, Kopf- und Gefühlsbilder. Märchenhaftes offenbart hierbei weltkluge Poesie. 

Tomer Dotan-Dreyfus Debütroman handelt von dem jüdischen Ort Birobidschan und wurde von ihm auf Deutsch geschrieben, wobei seine Muttersprache Hebräisch ist. Der Text ist eine Umkehr oder ein Versuch, die Zeit zu betrachten. Zeit, die linear wahrgenommen wird, verläuft nicht an einer Linie entlang. Sie ist eine Linie, die verbindet. Himmelsrichtungen und Orte werden durch diese Linie hartnäckig gestreift. Manchmal ist diese Zeitlinie aber auch rund. Gleich einem Ring, der sich verkleinern lässt oder sich fast ins Unendliche auszudehnen vermag. Zeit bewegt sich wie Rauch. Kann die Zeit umkehren? Kann sie das Innere nach außen kehren? Der Autor ist nun Herr dieser Elemente, muss aber aufpassen, so erkennt er selbst, denn wenn er zum Beispiel einen Bären in die Handlung setzt und abgelenkt wird, kann es passieren, das er Figuren verliert.

Stalin plant eine jüdisch-sozialistische Siedlung an der Grenze zu China. Was geschichtlich in den 1930er Jahren scheiterte, ist nun der Handlungsort des Romans. Dabei vermischen sich Vergangenheit, Gegenwart und Dichtung. Die übersprudelnden Geschichten handeln von den Bewohnern dieses Shtetls. Den Ort gibt es noch heute. Birobidschan ist der einzige Ort auf der Welt, in dem Jiddisch zur Amtssprache ernannt wurde. In diesem Ort treffen viele Linien zusammen, auch die Transsibirische Eisenbahn verbindet diesen weitentlegenen Ort mit dem Rest der Welt. Die gebrachte Zeitung ist zuweilen zwei Wochen alt, aber zu lesen gibt es auch den Birobidschaner Schtern. Die Siedlung in Sibirien liegt zwischen den Flüssen Bira und Bidschan, die hier zusammenfließen. Diese Ortschaft gibt den Rahmen für den im Roman beschriebenen magischen Realismus. In der Realität des Romans soll es ein Judentum ohne Antisemitismus geben. Die Handlung umfasst mehrere und hüpft innerhalb von Generationen und ist eine komisch-dramatische Gesellschaftsstudie. Das Politische wird märchenhaft und die Fabel kehrt ein ins private Leben.

Die Menschen, die Ur-Birobidschaner sind Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichten. Dabei wird geliebt, sich Sorgen gemacht und die kleinen Abläufe werden zu Weltgeschehen. Unterschiedliche Familiengeschichten verweben sich. Das menschliche Idyll gerät in einen Fluß, der letztendlich vieles aus den Fugen fließen lässt. Fremde und der oben genannte Bär tauchen auf und es werden Tote gefunden. Hierbei mischen sich Witz, Drama und die Lebens- beziehungsweise Zeitlinie, wird zackig, rund oder verlässt dabei ihre vorgesehene Bahn.

Ein herrlicher, kluger Spaß, der verzaubert. Die Realität birst und wird zuweilen auf den Kopf gestellt, um die Geschichte und Gegenwart aus anderer Perspektive neu zu erleben.

Zum Buch in unserem Onlineshop

Weitere Lesetipps von mir und tolle Gäste auf YouTube: Leseschatz-TV

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Erlesenes

Hinterlasse einen Kommentar