
„Bird“ ist ein realistischer Blick auf die Gesellschaft und nimmt uns nicht einfach an die Hand, um uns auf Missstände, den Rassismus und die Gewalt aufmerksam zu machen, sondern reißt uns regelrecht mit. Die Bezeichnung Kriminalroman kann hierbei leicht in die Irre führen, denn es ist keine herkömmliche Ermittlungsgeschichte, sondern ein Gefängnisroman, der durch die wechselnden Perspektiven einen Strudel erzeugt, der die Charaktere und uns beim Lesen herumwirbelt. Dabei wird nichts inhaltlich oder sprachlich verschönt. Mit dem Wechsel der Perspektiven verändern sich auch das Vokabular und der Blick auf die Mitmenschen und Ereignisse. Der tiefe Einblick in den Mikrokosmos des Gefängnissystems, der Kriminalität und der entsprechenden Figuren erinnert an die Erfolgsserie „The Wire“. Durch die kurzweiligen Kapitel, die die Gefängniswelt widerspiegeln, wird die Geschichte immer komprimierter und spannender. Somit ist die Bezeichnung „Kriminalroman“ dann doch passend.
Im Mittelpunkt steht Carson, ein Aborigine, der gerade um die Zwanzig ist und bereits mehrfach seine Erfahrungen mit der Polizei, dem Gericht und dem Gefängnis gesammelt hat. Er ist, zumindest aus Sicht des Kunstlehrers, im Gefängnis einer der Klügeren und somit hebt er sich wohl von den meisten Insassen ab. Doch immer wenn Carson zum Beispiel beim Gefängnis-Kunstkurs dabei ist, gibt es Unruhen. Langsam baut sich ein Mosaik zusammen, das uns den ganzen Kosmos um Carson erklärt. Durch die diversen Erzählstimmen der Nebenfiguren, die Carson kennen, begegnen oder zu resozialisieren versuchen baut sich das Gesamtwerk zusammen. Immer wieder gelangt Carson ins Gefängnis. Die Handlung ist in drei Kapitel eingeteilt: „In“, „Out“ und „Shake it all about“. Sein Lebensweg ist geprägt von einem Kreislauf aus Drogengeschichten oder anderen kleinen oder großen kriminellen Handlungen. Er ist jung und hat einen guten Körper und weiß diesen auch stets zu seinen Gunsten einzusetzen. Daher gibt es auch diverse Frauengeschichten. Sein Werdegang ist durch das Wechselspiel zwischen dem kriminellen Leben draußen und dem Gefängnis geprägt. Die Aborigine sind in Australien eine Minderheit geworden, nicht aber im Gefängnis. Die Arbeitswelt und die Gesellschaft räumen der weißen Hautfarbe weiterhin bessere Chancen ein. Rassistische Vorurteile prägen noch immer die moderne Gesellschaft. Alle Figuren sind Facetten der ganzen Geschichte. Carsons Geschichte wird durch ihn, von Freunden, der Psychologin und dem Mitarbeiterstab des Gefängnisses erzählt. Carson windet sich durch die Ereignisse, passt sich agierend oder rein sprachlich seinem Umfeld an. Dabei bekommt die schmutzige Düsternis zuweilen auch viel Humor. Alle Charaktere handeln, denken und sprechen ganz nach ihren Gegebenheiten. Manche wollen Gutes erreichen, doch verzweifeln sie an der Bürokratie und an der Aussichtslosigkeit. Es gibt für einige viel zu tun und zu planen. Andere agieren planlos und werden durch das Umfeld und die Ereignisse getrieben. Der Gefängnisalltag wird dabei zur Routine oder zu einer Herausforderung.
Adam Morris erzeugt cineastische Bilder und kann seine glaubhaften Erfahrungen einbringen. Er ist Musiker, preisgekrönter Filmemacher, Sonderpädagoge und Universitätsdozent und lebt in Westaustralien. Er war als Kunst-, Tanz- und Musiklehrer in westaustralischen Gefängnissen tätig. Conny Lösch hat den Roman aus dem Englischen übersetzt.
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