
Waubgeshig Rice lässt erneut den Mond auf seine Welt scheinen. Seine Bücher können jeweils ohne Wissen des anderen gelesen werden, aber „Mond des gefärbten Laubs“ ist die inhaltliche Rückkehr und Fortführung der Handlung von „Mond des verharschten Schnees“. Es geht um das Leben und das Überleben der Anishinaabe.
Waubgeshig Rice ist Journalist und Autor aus der Wasauksing First Nation. In Kanada sind seine Romane Bestseller und liegen nun beide in der Übersetzung von Thomas Brückner vor. Der Anfang der Geschichte wird im „Mond des verharschten Schnees“ erzählt. Es sind tiefe Einblicke in das Leben in und mit der Natur. Die Familien der Anishinaabe sind aufeinander angewiesen und haben eine enge Verbundenheit. Sie wurden aus ihrer eigenetlichen Heimat vertrieben und leben in einem Reservat im nördlichsten Teil Kanadas. Die Gemeinschaft ist familiär, doch zerrissen zwischen dem Abfinden mit den Situationen, der Unwirtschaftlichkeit und den alten Traditionen. Depression, Alkoholmissbrauch und Resignation machen sich breit. Besonders weil der Winter hier unendlich erscheint und es plötzlich zu einem Stromausfall kommt. Der Kontakt zur Außenwelt ist gänzlich abgebrochen und die Versorgung bleibt aus. Die Anlieferung kann wegen der anhaltenden Witterung nicht mehr erfolgen und der Nachbarschaftssinn und besondere Überlebenstechniken sind somit lebensnotwenig. Im Mittelpunkt steht das Gemeindehaus und die Hauptfigur Evan Whitesky mit seiner Frau und seinen Kindern.
Zwei Jugendliche, die in der nächsten Stadt lebten, kehren heim und berichten, dass auch dort alles zusammenbricht und es zu Plündereien und Gewalt kommt. Die Welt der Weißen ist somit auch betroffen und plötzlich taucht ein unbekannter Ranger auf, der um Einlass in die indigene Gemeinschaft bittet. Doch kann man dem Neuankömmling trauen? Gerade weil es zu Todesfällen kommt. Ein monatelanger Winter verharscht die Gemüter der Menschen und der Hunger treibt manche in den Wahnsinn.
In „Mond des gefärbten Laubs“ geht die Geschichte weiter. Eine kleine Gruppe der Anishinaabe hat die vermeintliche Zivilisation verlassen, um im Outback ihr Überleben zu sichern. Zwölf Jahre später haben sich die Familien in der Lebenssituation zurechtgefunden. Erneut sind sie geprägt von den alten Traditionen und dem Leben von der Jagd. Jedem genommenen Leben zollen sie Respekt und sind voller Dankbarkeit. In den Familien gibt es Nachwuchs und dies stellt die Gemeinschaft erneut vor die Zukunftsfrage. Denn das Leben der Anishinaabe in ihrer neuen Siedlung wird durch die Lebensbedingungen erneut bedroht. Der See ist überfischt und die großen Tiere meiden die Region, weil sie gelernt haben, die Menschen zu meiden. Sie überlegen den Rückzugsort zu verlassen und in die herkömmliche Heimat zurückzukehren. Im Mittelpunkt ist die eigensinnige Nangohns, Tochter des Anführers, die im „Mond des verharschten Schnees“ noch ein Kind war. Sie lebt die Rituale der Ahnen und begibt sich nun auf eine beschwerliche Reise. Sie wollen erkunden und treffen auf viele Unwägbarkeiten, Wendungen und Überraschungen.
Waubgeshig Rice kann glaubhaft erzählen und macht für uns eine fremde Welt sichtbar. Die jeweils anfängliche Stille offenbart dann das Unvorhersehbare. Die Naturbilder sind fast schon wunderschön, wenn sie nicht neben der hässlichen Verzweiflung stehen würden. Menschen, die notgedrungen reagieren oder resignieren werden erlebbar und die Hauptfiguren sind greifbar und charismatisch beschrieben. Die Verbindung von Mensch und Natur wird in jeder Zeile spürbar und zeigt uns lediglich als Teil der ganzen Geschichte. Lesenswerte, zuweilen brutale, aber authentische Werke, die uns einen tiefen Eindruck von Kanada vermitteln.
Siehe auch meinen damaligen Beitrag auf Leseschatz-TV zu „Mond des verharschten Schnees“