
Die Handlung wirkt der Realität enthoben und erzeugt den Eindruck einer erzählten Legende. Doch ist es ein rein literarisches Werk voller Symbolik, die uns innehalten lässt, anregt und stille Fragen stellt. Die Novelle ist 1956 erstmalig in Japan erschienen, lässt sich aber zeitlich im Inhalt nicht fassen. Erzählt wird von einem einfachen Dorfleben, das durch Hunger getrieben, bestimmte Rituale vollzieht. Das Werk war bereits in deutschen Versionen erschienen, doch waren diese stets der französischen Übersetzung entnommen. Nun liegt eine Übersetzung aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg vor, die durch lesenswerte Erklärungen und Nachwörter ergänzt wird. Die Erzählung wurde zweimal verfilmt (u.a. als „Die Ballade von Narayama“)
Ein kleines japanisches Dorf in einem rauen, lebenskargen Hochland. Die Bewohner leben unter ärmlichen Bedingungen und der Alltag wird von der Natur und den Wettereinflüssen bestimmt. Das Miteinander ist wichtig und Diebstahl führt zur Verbannung, was einem Todesurteil gleich kommt. Die Dorfbewohner zählen aufeinander und die Anzahl der Bewohner ist durch die Lebensbedingungen begrenzt. Reis gilt als ganz besonderes Nahrungsmittel und Hunger bestimmt den Lebensalltag. Dies führt dazu, dass, wenn es zu mehr Nachwuchs kommt als der Gemeinschaft gut tut, Säuglinge ausgesetzt werden. Ferner gebietet es der Brauch, dass die Alten mit siebzig Jahren sich auf den Gipfel des Narayama begeben, um nicht zurückzukehren.
Orin sorgt sich um das Glück ihrer Familie. Sie wird bald die Reise zum heiligen Berg antreten und ihr verwitweter Sohn und ihre Enkel wären dann auf sich gestellt. Es gibt ein weiteres Dorf, lediglich das andere Dorf genannt, und von dort organisiert sie eine neue Schwiegertochter. Jedes neue Mitglied wird wahrgenommen als ein weiterer Mund, der durchgefüttert werden muss. „Kein Essen“ gilt daher als schlimmste Beleidigung und Strafe. Der Zusammenhalt wird geprägt durch die archaischen Bedingungen, den Glauben und die Lieder. Der Gesang wird mal umgedichtet, um zu beleidigen, zu loben oder durch humorvolle Zeilen ergänzt. Orin plant bereits schon lange ihren Aufstieg zum Narayama, um dem Gott zu begegnen. Ein Brauch, den sie für die Gemeinschaft oder für ihren Glauben vollzieht. Sie hat das übliche Abschiedsfest geplant und vorbereitet und hofft, wenn sie den richtigen Moment abpasst, dass auch der Schneefall einsetzt, ein positives und göttliches Zeichen für das erbarmungslose Ritual. Ihr noch gepflegtes Aussehen, besonders die intakten Zähne, bereitet ihr Sorgen und bringt ihr zuweilen auch den Hohn der Gemeinschaft ein. Der Weg zum Gipfel folgt einem genauen Ritual, der ihrer Begleitung still anvertraut wird und in der Durchführung genauestens wiederholt wird. Somit ist auch die Erzählung geprägt durch Wiederholungen, die wie ein Mantra die Empfindungen verstärken. Das Mystische, die Traditionen und die Rituale mit ihren bestimmten Liedern erzeugen eine Authentizität, die aber, auch die Liedtexte und Melodien, der Kreativität von Shichiro Fukazawa zuzuschreiben ist.
Senizid als Hauptthema, verwoben mit den Figuren, den Bildern und dem Sprachrhythmus erzeugt einen Klang, der uns bewegt und lange beschäftigen wird. Das vermeintlich Althergebrachte verliert in der Gegenwart nicht an Bedeutung. Vieles in dieser sehr kurzen Erzählung ist voller Metaphorik. Interpretationsmöglichkeiten ergeben sich ganz individuell, ohne Anstrengung und werden großartig ergänzt durch die Erklärungsangebote im Anhang. Ein kleines Meisterwerk aus Japan.
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Klingt sehr interessant. Auch ein schönes Cover.