Martina Berscheid: „Fremder Champagner“

Dies sind Erzählungen, die sich hauptsächlich mit dem menschlichen Gruppengefüge beschäftigen. Es sind Lebenssituationen, die alltäglich, unterschiedlich und überraschend sind. Der Titel deutet es an. Champagner ist eine Steigerung vom gewöhnlichen Sekt und wird meist zu besonderen Anlässen, Feierlichkeiten oder Momenten getrunken. Doch ist es ein fremder Champagner. Das Fremdeln wird somit thematisiert. Die Autorin blickt mit viel Einfühlungsvermögen auf ihre Figuren und beobachtet die kreierten Situationen ganz genau. Es sind Kurzgeschichten, die alle durch ihre Knappheit und Verdichtung der Handlung fesseln. Die Stimmungen werden dezent angehoben und die Wendungen überraschen und öffnen Risse in unseren zwischenmenschlichen Bindungen. Daher erinnern diese Texte an die Kurzprosa von Deborah Levy. 

Die Sammlung beginnt auch mit einer Geschichte, in der der Champagner auftaucht. Es ist eine Frau, die liegengebliebene Kassenbons beim Einkaufen aufhebt und sich anhand der gekauften Produkte Geschichten um die Käufer ausdenkt. Dies gilt ihr als Flucht vor der Tristesse des Ehealltags. Die Ehe wird in weiteren Geschichten auf die Prüfwaage gestellt. Besonders bei einer gemeinsamen Reise. Zwei Familien, die sich angefreundet haben und nun erstmalig zusammen ans Meer verreisen. Dabei entsteht aus anfänglicher Distanz eine Erkenntnis, die die Frauen zu Verschwörerinnen werden lässt. Alle Menschen in diesen Geschichten hadern, sind verzweifelt oder fühlen sich in der Gemeinschaft allein.  Eine Leere bricht auf, die sich Neues sucht. Auch wenn diese Suche mit Hilfe des Passworts für den Laptop des Partners geschieht. Die Einsamkeit sucht sich diverse Wege und kann auch Verstorbene, zumindest in der Vorstellungskraft oder dem Wunschdenken lebendig werden lassen. Bleibt am Ende lediglich ein gespürter Windhauch? Im Leben ist es somit wie in den Beziehungen. Klare Verhältnisse können hilfreich, aber auch verstörend sein. Der Wunsch nach menschlicher Nähe kann zuweilen ungewöhnliche Wege gehen. Dabei hilft eine Verkleidung, die lediglich für den Moment das Leben anders erscheinen lässt. Manche Menschen benehmen sich, als wären sie Könige und sind dabei meist das diabolische Gegenteil der Menschlichkeit.

Belanglosigkeiten entpuppen sich als wichtig und die kleinen Momente sind es, die uns, die Situation und das Umfeld verändern. Das Herumtänzeln um Probleme innerhalb der Gesellschaft, der Beziehungen und der Familie ist menschlich, aber niemals zielführend. Missverstandene Emotionen oder Missdeutungen, wenn nicht sogar Vorurteile, können dabei gefährlich werden. Gerade wenn sich Aggression andeutet. Ein Charakter geht in einer Geschichte sogar soweit und möchte einen Brandanschlag verüben, der dann zum Glück durch das Auftauchen der Familie abgewendet wird.

Die Erzählungen haben unterschiedliche Spannbreiten von großen und kleinen Handlungen. Doch die Auswirkungen sind meist enorm. Martina Berscheid hat ein Gespür für Geschichten, Charaktere und Wendungen. Sie fühlt sich ganz genau in Situationen hinein und kann diese literarisch zum Leben erwecken. Dabei tanzt sie mit Humor, Tragik und Spannung. Ein bunter Lebensreigen, der uns fesselt, nachdenklich stimmt und die Gefühlswelt durcheinanderwirbeln kann.

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