Salih Jamal: „Vor der Nacht“

Ein Roman über Freundschaft, Halt, Verlust und Hoffnung. Erneut stürzt sich Salih Jamal in seine Figuren und Sprache. Dabei entsteht eine Bindung an die Charaktere, die uns nicht mehr loslassen werden. Ein Schriftsteller, der als Hauptcharakter aus der zeitlichen Distanz heraus auf die Jugend schaut, in der er im Heim mit anderen Jugendlichen einen Zusammenhalt fand, der letztendlich  zerbrach und er sich nun auf die Suche macht.

Eigentlich schreibt Salih Jamal seine Romanthemen immer weiter. Nur die Umfelder und die Namen verändern sich. Doch ist jedes Werk bisher eine lohnenswerte Reise. Auch „Das perfekte Grau“, das vorherige Werk des Autors, taucht auf. Cézanne sagte einst, dass man erst ein Maler ist, wenn man Grau gemalt hat. Dies verinnerlicht Salih Jamal stets in seinen Werken und die Charaktere sind somit niemals Weiß oder Schwarz sondern nähern sich dem perfekten Grau. Salih Jamal hat seine Wurzeln in Palästina und ist ein sehr belesener Autor. Seine Liebe zur Literatur wird in jedem seiner Bücher spürbar zelebriert. „Vor der Nacht“ ist wohl sein zartestes Werk und erinnert durch Sprachklang und Handlung an die Werke von Rolf Lappert: „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“, Benedict Wells: „Vom Ende der Einsamkeit“ und an Zsuzsa Bank „Die hellen Tage“.

Jimmy, eigentlich Jonas, reflektiert über seine Geschichte. Viele Geschichten dieser Art beginnen und enden am Meer. Die meisten handeln aber davon, ein Land, eine Heimat zu finden. Er ist Schriftsteller und fixiert seine Erinnerungen und die damaligen Ereignisse. Die Geschichte seiner Eltern ist eine traurige, denn die Mutter stirbt und der Vater steht dann vor finanziellen Herausforderungen, die ihn zu einer Verzweiflungstat führen. Er kommt ins Gefängnis und Jonas ins Heim. Ein Kinderheim, in dessen Umgebung lediglich ein Wald, ein Fluß und die Autobahn sind. Die Heimmutter ist wie eine Wölfin, die ihre Zöglinge, die sich trotz des geräumigen Gebäudes die Zimmer teilen sollen, überwacht. Zum engen Kreis um Jonas, der bei seiner Ankunft von den anderen Heimkindern Jimmy genannt wird, gehören Frei, Lilly, Ilan Nussbaum, den sie Pappel nennen und Beria mit ihrem Bruder Sinan. Ferner die Heimleitung mit ihrer Tochter, die mit allen ihre Spielchen treibt und der Hausmeister, Gärtner und Fahrer Esteban.

Frei ist es, der Jimmy in die Heimwelt einführt und auch den Halt innerhalb der Gruppe anfänglich ausmacht. Frei, der später eine Steinmetzlehre beginnt, ist auch bereit, seine Kraft zu demonstrieren, besonders in der Schule, als zum Beispiel Jimmy angegangen wird. Sie zelebrieren ein abendliches Ritual, in dem sie sich alle einen Apfel teilen und sich dabei ihre Geschichten erzählen. Dadurch entsteht ein enormer Zusammenhalt. Doch gibt es eine äußere Welt, die immer mehr in das vermeintliche und innere Refugium eingreift. Plötzlich zerbricht alles. Zwei der Jugendlichen verschwinden und mit ihnen auch Esteban und ein Stallgehilfe vom anliegenden Pferdehof.

Jahre später, als Jimmy erwachsen ist und seine eigenen Weg finden muss, lassen ihn diese Geschichte und Ereignisse nicht mehr los und er begibt sich auf die Suche. Eine Reflektion über Zusammenhalt, Familie, Freundschaft, Schuld und Vergebung beginnt.

Eigentlich müsste „Vor der Nacht“ einen warnenden Sticker erhalten: Achtung, wenn Sie das Buch anfangen zu lesen, werden Sie bis zum Beenden nichts anderes mehr machen können,  geschweige denn wollen. Sosehr nehmen Sie Jimmy, Pappel, Lilly, Beria, Sinan und Frei in Beschlag. Denn während Sie lesen und jemand zum Beispiel Hunger hat und möchte, dass Sie kochen, werden Sie wohl nur in der Lage sein, einen Apfel zu reichen. Aber ein Apfel verbindet wiederum alles. Ein unglaublich gutes Werk.

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