
Neil Smith versucht mit „Jones“ seine eigene schmerzhafte Familiengeschichte zu erfassen und verwandelt die negativen Gefühle durch kreatives Schaffen in Literatur. Den Schmerz überspielt er dabei mit Humor und leichtem Zynismus.
Jones ist der fiktive Familienname, der bereits durch die Bedeutung richtungsweisend ist. Der Name steht für ein brennendes Verlangen, Heißhunger nach einem Drink zum Beispiel. Es sind die Kinder, Eli und Abi, die im Zentrum des Romans stehen. Das F-Wort haben sie bereits umgewandelt, denn es steht für die beiden für Familie. Die beiden haben ein enges und vertrautes Verhältnis. Ihre Kindheit in den 70er Jahren ist geprägt durch ihre verkorksten Eltern. Bereits als Kinder wollen sie weg, am liebsten nach New York. Somit tauchen die gemalten Stadtumrisse in erdachten oder gebauten Schutzräumen auf. Dabei ist Montreal ihre eigentliche Heimat, doch bleibt die Familie nie lange an einem Ort. Immer zieht es sie dorthin, wo Pal, ihr Vater Arbeit findet.
Abi hat aus der Sicht von Eli eine engere Bindung an den Vater. Doch diese Wahrnehmung wird immer poröser. Der Vater ist alkoholkrank und hält nie lange durch. Er betrinkt sich nach den trockeneren Tagen maßlos und verschwindet tage- oder wochenlang. Wenn er heimkehrt ist er voller Scham und versucht neuen Fuß zu fassen. Joy, die Mutter, ist resigniert, gefühlskalt und barsch. Sie arbeitet auch stets und ist gegenüber den Kindern oft aufbrausend oder gemein. Die Geschwister wachsen dadurch sehr eng zusammen. Abi erzählt ihrem Bruder, sie habe magische Kräfte und könne in die Seelen von Tieren oder sogar in Elis Seele wandern. Durch dieses Bild stärkt sich ihr Band. Abi sucht die Flucht in ihren Büchern. Eli hilft der Mutter ab und zu bei der Arbeit und klaut auch ohne schlechtes Gewissen Dinge in den Läden, wenn es Abi benötigt. Sie erklären sich die Welt aus Kindesaugen und nehmen gefühlskalt die der Erwachsenen wahr. Die Kluft bricht innerhalb der Familie gänzlich auf, als Eli Pal dabei beobachtet, wie dieser tagsüber Abi ins Bett bringen möchte und er erst langsam versteht, was tatsächlich passiert.
Eli erkennt, er muss sich lösen, sich von der Familie befreien, um sein eigenes Leben außerhalb der kindlichen Wahrnehmung und Sprache zu erfassen. Abi und Eli versuchen das Erwachsenenleben zu finden und suchen ihre Identität, ihre Sexualität und ihre Freiheit. Der lange Weg führt über diverse Abwege.
Ein Roman über eine dysfunktionale Familie. Trotz des Dramas hat das Werk auch viel Witz. Denn das Geschwisterpaar und wohl auch der Autor versuchen, dem Horror mit Humor zu begegnen. Dabei wird der Schmerz für die Protagonisten erträglich. Der Sprachstil ist locker und zugänglich. Ein Roman, der mit einem Foto eines Mädchens in einem Ballettkleid endet. Somit wird das Autofiktionale belegt. Die Handlung kreist um ein Geschwisterpaar, das uns ein familiäres Grauen erleben lässt, aber dabei auch die Kraft der Imagination, der Phantasie und der Kunst zeigt. Ein trauriger und schöner Roman, der bewegt und uns gleichzeitig zum Schmunzeln bringen kann.
Neil Smith ist als Übersetzer und als Autor tätig, sein bekanntestes Werk ist „Das Leben nach Boo“. Mit „Jones“ hat er wohl sein persönlichstes Buch veröffentlicht, das aus dem kanadischen Englisch von Brigitte Walitzek übersetzt wurde.
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