
Nach ihrem hochgefeierten Roman „Alle, außer mir“ hat Francesca Melandri ein wichtiges neues Werk veröffentlicht. Es ist ein Buch, das sich romanhaft liest, aber ein erzählendes Sachbuch ist. Ihre Welt- und Weitsicht, die sie mit ihren vorherigen Werken fixierte, vertieft sie somit und verknüpft Geschichte mit der Jetztzeit. Der emotionale Roman „Alle, außer mir“ erzählt eine Familiengeschichte mit beeindruckenden Frauengestalten und bricht mit dem Schweigen über die düstere Kolonialgeschichte, die ihren Schatten auf die heutige Politik wirft. Mit „Kalte Füße“ geht sie weiter und schaut auf ihre Familie und auf die damaligen Ereignisse und verbindet diese mit den aktuellen Ereignissen. Wohl eines der wichtigsten Werke des Herbstes. Denn das Buch macht die Verknüpfungen deutlich, ist ein Appell an den Frieden und bindet uns, die das Buch lesen, persönlich mit ein.
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine stellt sich die Autorin die Frage, was Krieg bedeutet? Krieg war stets etwas Fernes, das man aus den Berichten und Nachrichten wahrnahm. Die Parole „Nie wieder Krieg“ beinhaltet die Sehnsucht lediglich den Krieg vom eigenen Lebenskreis fernzuhalten, denn Krieg gibt und gab es leider irgendwo immer. Stellen wir uns mal Kinder vor, die spielen wollen. Schlägt dann einer vor, Frieden zu spielen, wäre ratlose Stille die Antwort. Kriegsspiele sind stets ein Antrieb der Menschheit. Es geht immer um Macht und um Ressourcen. Als Francesca Melandri nun in den aktuellen Nachrichten Ortsnamen hört, die sie aus den Erzählungen und Büchern ihres Vaters hörte und las, wird sie hellhörig. Ihr Vater war im Krieg. Auf der falschen Seite und bekam Orden und war ein Kriegsheld. Doch im Krieg wird man nicht als Held gefeiert, weil man Leben gerettet hat. Durch die Ereignisse und die Texte und Erzählungen ihres Vaters beginnt Melandri die Geschichten zu verbinden. Geschichten werden zu Geschichte. Das Persönliche wird öffentlich und ist stets mit Politik und Weltgeschehen vereint.
Ihr Vater erzählte oft vom Rückzug aus Russland. Gerne hätte er sich im Nachhinein im Widerstand gesehen. Seine Geschichten sind durchdrungen von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt. So wie es in vielen Familien wohl der Fall ist. Seine Erzählungen lassen oft die vorherigen Ereignisse aus. Diese Stille einer ganzen Generation durchbricht Melandri und es beginnt eine spannende Spurensuche. Alles mündet in der Jetztzeit. Denn der damalige Rückzug aus Russland beinhaltet zwei unausgesprochene Tatsachen. Wenn es einen Rückzug gab, muss es auch einen Einfall gegeben haben und der Weg führte durch die Ukraine. Somit macht das Buch unsere Gegenwart immer verständlicher. Melandri kennt ihren Vater als klugen, sanftmütigen Mann. Jetzt wird seine Geschichte Auftakt zu der Betrachtung der ganzen europäischen Geschichte. Einzelne menschliche Schicksale werden ein Faden im großen Teppich der Menschheitsgeschichte. Phrasen verklingen zu Wahrheiten und berühren unsere eigene Vergangenheit. Wie kann Frieden gelingen? Das Ende des Friedens in unserer nahen Umgebung ist der Beweggrund des Werkes, in dem der Pessimismus immer weniger Raum erhält und das den Wunsch nach Frieden deklariert. Ein eindringliches und lesenswertes Buch. Übersetzt von Esther Hansen.
Zum Buch in unserem Onlineshop
Weitere Lesetipps von mir und tolle Gäste auf YouTube: Leseschatz-TV