
Ein Roman zum Abtauchen. „Gestalten der Tiefe“ (im Original „Our wives under the sea) lässt sich keinem Genre gänzlich zuordnen. Es ist eine großartige Verwässerung, die den Bereich zwischen Meer und Luft, der eventuell beides ist, erkundet. Durch das Symbol der Meerestiefe erhält das Leben hier in der Literatur mindestens eine Dimension mehr und die Dinge, die sich unten bewegen lösen eine Kettenreaktion weiter oben aus. Es ist eine vielschichtige Beziehungsgeschichte, die die Dichte und Wandelbarkeit der Liebe in den Mittelpunkt stellt. Alle Aspekte und Empfindungen werden seziert. Doch tauchen auch Unheimlichkeiten auf, die einen Spannungsbogen erzeugen und dabei das Fantastische sowie die Science-Fiction berühren.
Die Meeresbiologin Leah geht auf eine Forschungsreise, die für wenige Tage angesetzt wird. Doch wird daraus ein halbes Jahr. Mit drei weiteren Menschen begibt sie sich in ein modernes U-Boot und soll in den Tiefen nach unbekanntem Leben Ausschau halten. Doch breitet sich komischer, fleischlicher Geruch gleich beim Absetzen aus und die Elektronik geht aus. Nicht aber die lebenserhaltenden Systeme. Der Kontakt zur Außenwelt ist unterbrochen und das U-Boot sinkt auf den Ozeanboden.
Miri, Leahs Frau, erhält Anrufe vom Centrum des Meeresinstituts, die fast mechanisch um den Unfall herumargumentieren und erklären, alles wird gut. Doch bleibt das Team verschollen und Miri macht sich Sorgen und sucht nach Antworten. Auf dem Ozeanboden versucht das Team ebenfalls den Kontakt herzustellen, wobei es aussichtslos bleibt. Durch das fehlende Licht können sie nichts um das gesunkene Boot erkennen. Doch das Wissen um den enormen Druck, der auf ihnen lastet, breitet sich auf die Gemüter aus. Dann hört auch das sehr religiöse Teammitglied in den immer wiederkehrenden Außengeräuschen Stimmen und der Wahnsinn scheint sich in den Kabinen auszubreiten.
Nach sechs Monaten und einer kurzen Quarantäne kehrt Leah heim. Miri ist glücklich, doch schnell zeigt sich, das Leah sich verändert hat. Die Veränderung zeigt sich in der Wesensart und im Körperlichen. Leah sucht die Nähe zum Salzwasser. Beide liebten es damals Filme zu sehen, nun bleibt nur noch eine diffuse Realität. Ein Wechselspiel zwischen fester Materie und der flüssigen Welt beginnt. Die Enge im U-Boot spiegelt sich in den Räumlichkeiten der Wohnung. Die vermeintlichen Stimmen in den Untiefen erhalten eine Resonanz in den stimmlosen Telefongesprächen. So heben sich langsam im Roman die Grenzen zwischen den Materien auf und das Leben sucht sich stets seinen Weg.
Die Handlung taucht immer tiefer ein. Von der lichtdurchfluteten Zone bis in den Tiefseegraben. Dabei schillern die Farbprismen an der Oberfläche, um dann auch die Schatten zu bilden, die immer unheimlicher werden. Die Untiefe wird zu Abyssos und könnte die Unterwelt sein, wenn nicht das Leben und die dauerhafte Liebe wären, die Klarheit bringen. Die Metaphorik wird dabei niemals verklärend eingesetzt, sondern außergewöhnlich, verspielt und kunstvoll verwendet.
Ein Roman, der spannend, unheimlich und enorm vielschichtig ist. Ein Beziehungsroman der alle Grenzen auflöst und abgrundtief gut ist. Selten waren die vorangestellten Zitate aus „Moby Dick“ und „Der weiße Hai“ passender. Aus dem Englischen wurde der Roman von Hannah Pöhlmann übersetzt.
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