
Jeder liest ein Buch anders, denn das Gelesene wird Gast in unserem Kopf. Dieser Gast kann ein Kurzaufenthalt sein oder länger in uns verweilen. Denn wir leben alle in der ungeheuren Welt in uns. Sei diese im Kopf oder im Herzen. Wir alle leben zwar in der gemeinsamen Welt und doch nehmen wir diese durch unsere Wahrnehmung auf und sie sickert durch unsere Lebensmembran und erschafft ein individuelles Bewusstsein. Wir lassen das Äußere in uns wirken und schaffen durch selektive Wahrnehmung unseren Resonanzraum. Wir bewegen uns somit mit unserem eigenen kleinen Gedankenglobus durch die Umgebung, wie ein Taxifahrer, der zuweilen Gäste aufnimmt und sich und diese durch die Lebensräume chauffiert. Was passiert, wenn sich die realen Fahrgäste mit fiktiven Charakteren aus der Literatur vermengen. Wenn der Taxifahrende in seinen Pausen Kafka liest und sich kurz darauf eine Figur aus der erträumten Kafka-Welt in das Leben, in das Auto eines Wiener Taxifahrers begibt? Dies ist der Anfang einer Abenteuerfahrt, ein kafkaeskes „Night on Earth“.
Das Buch ist unterhaltsam, klug und sehr kurzweilig. Während wir lesen, werden wir selbst ein Teil des Werkes, denn die Stimmen werden immer lebendiger und das Spiel, das sehr bühnenreif ist, beginnt. Ein Taxi als Bühne für das Drama. Alles was passiert, geschieht in dieser Welt, dem realen Umfeld und dem erträumten oder erdachten Dasein. Wir fahren durch Wien, durch die Hirnwindungen eines Mannes, der Kafka liest und Fahrgäste kutschiert. Er hält Zwiegespräch, er redet und diese Dialogform setzt sich fort und bildet den Text des Romans. Dieser Kunstgriff, die Dialoge geben dem Wort sehr viel Resonanzraum für Gedanken, Interpretationen, Witz und Emotion. Immer wieder taucht dann auch noch Kafka auf. Als Zitat oder als Motiv. Dadurch wird dieser Ritt aber nicht schwerfällig, sondern erhält sogar etwas sehr Leichtes, Humorvolles und Erstaunliches.
Sascha sitzt in seinem Taxi, wartet auf Fahrgäste, hört Jazz und führt ein inniges Gespräch mit Milo. Dieses eigensinnige Gespräch gibt den Rahmen, die Regieanweisung und baut die Szenerien auf. Sascha liest gerne, aber nur echtes, also keine Fiktionalisierung. Romane vermeidet er. Er liest gerne Kafka, seine Tagebücher, die immer mehr in seinem gestalterischen Kopf einwirken. Bis plötzlich die Tänzerin Eduardowa mit ihrem Liebhaber ins Taxi einsteigt. Ab diesem Moment verweben sich alle Wahrnehmungen. Die Handlung wird immer spannender. Die Literatur wird lebendig und eine Fahrt durch Wien beginnt, die den Zielort kunstvoll ausdehnt.
Es geht um Liebe, Schmerz und Einsamkeit. In der Reduktion des Textes eröffnet sich die Emotionalität des ganzen Lebens. Traum trifft auf Wirklichkeit und wird Literatur. Das Leben außerhalb und innerhalb eines Taxis zeigt uns die ungeheure Welt in unseren Köpfen, die nur Literatur zu erschaffen vermag.
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