
Ein außergewöhnlicher Roman, der uns den Pferderennsport mit ungeahntem Tiefgang präsentiert. Dabei ist es ein Werk, das ungeschönt, schnörkellos und fast schon sachlich eine Welt öffnet, die den meisten von uns wohl sehr fern ist. Durch die sprachliche Distanz erhält der Roman eine Emotionalität, die sehr aufwühlt. Auch wenn der Hauptkern, der Pferdesport, die meisten auf den ersten Blick nicht interessieren sollte, ist es ein Buch, das viel mehr zu bieten hat. Es ist eine Gesellschaftsstudie, ein persönlicher Blick und ein Leben, das von einer starken Frau erzählt, die oft gestürzt ist und lernte, immer wieder aufzustehen. Das Aufrappeln in einer relativ brutalen und männerdominierten Umgebung. Menschen und Tiere werden, auch wenn sie geliebt werden, auf ihren Nutzen reduziert.
Kathryn Scanlan hat einen Roman geschrieben, der auf persönlichen Gesprächen basiert. In den Jahren 2018 bis 2021 hat sie mit Sonja immer wieder gesprochen und ihre Geschichte, Anekdoten und besonders ihre eigensinniger Sprachklang sind das Fundament des Romans. Aus Sonjas Geschichte wurde Fiktion. „Boxenstart“ macht das, was nur Literatur vermag, sie zeigt uns eine andere Welt und macht diese spür- und erlebbar.
Es sind ganz kurze Kapitel, die sich chronologisch aufbauen und die dennoch hier und dort etwas vorwegnehmen und dadurch eine Spannung erzeugen. Zum Beispiel die schwere Verletzung, die Sonja erlebte und vieles danach wieder erlernen musste. Sie lebt in einer Welt, in der Armut und Reichtum nebenhergehen, Gier und Hingabe sich ergänzen. Auch wenn die Menschen zuweilen missgünstig, abweisend oder sogar verfeindet denken, agieren sie im Notfall oft gemeinschaftlich. Bereits als Schülerin kommt Sonja mit den Pferden in Berührung und verliebt sich. Dies sind keine Schwärmereien eines kleinen Mädchens oder verklärte Träumereien, denn sie wird in Folge viel für das tierische Wohl aufopfern. Als Schülerin erhält sie auch ein Pferd, nach langer Überredungskunst, denn das Tier ist sehr eigenwillig. Mit diesem Tier lernt sie den Umgang mit Pferden und erlangt großes Verständnis. Auch ist es das Tier, das sie selbst beruhigt und sogar am Ende der Familie die Welt etwas besser erscheinen lässt.
Die Welt, in die Sonja nach der Schule eintaucht ist brutal und verlangt sehr viel. Von den Menschen und den Tieren. Pferde, die keinen Schmerzlaut haben, werden bis zum Letzten ausgenutzt, um Siege oder Gelder zu erzielen. Daneben die Jockeys, die sich abmagern für den Sieg und die Halter, die vorrangig an die Gewinne beim Rennen oder den Verkauf denken. Mittendrin immer die Tierpfleger und Pferdetrainer. Sonja wird eine von diesen, die in den Boxen oder in alten Wohnwagen lebt. Ihr ganzes Leben ist den Pferden untergeordnet. Sie wird sich jeden Tag gegenüber den Männern behaupten müssen und ihre Spiele ertragen. Auch Missbrauch erduldet Sonja still, um letztendlich ihren Platz an den Rennbahnen Amerikas mitzuerobern. Sie erduldet die harte Arbeit und die Gewalt durch ihre Leidenschaft, ihr Können und die Liebe zu den Pferden. Am Ende ergreift sie dann doch noch eine ganz andere Berufung, weil sie die Hoffnung hat, einem ihrer Peiniger gegenübertreten zu können.
Ein schonungsloser Roman über ein radikales Leben. Gerade das Einfache, das hier gewöhnlich klingt, wird für uns das Außergewöhnliche. Ein kurzweiliger Ritt, der uns verändert aus dem Buch heraustreten lässt. Ein bereichernder Parcours.
Übersetzt wurde der Roman von Jan Karsten. Jan ist Übersetzer, Verleger und hat länger, wie wir nun erfahren, auch als Buchmacher im Pferdesport gearbeitet. Somit schließt sich mit dieser Veröffentlichung wohl ein kleiner Kreis.
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