Victor Heringer: „Die Liebe vereinzelter Männer“

Ein besonderer Roman, der sich inhaltlich wie ein Kreisel um den Kern dreht, sich ellipsenhaft vom Wendepunkt entfernt und wieder annähert. Er beinhaltet ein Erwachen aus der Kindheit und das Erkennen. Somit kann der Kreisel erneut als Metapher für den Roman herhalten, denn ein Kreisel ist ein Kinderspielzeug, das eine Faszination ausübt, doch mit dem Erwachsenwerden immer weniger Zauber innehat und wenn sich die Rotation verlangsamt kippt das Spiel, taumelt und hält an. Die ganze Sprache und Aufmachung des Buches führt uns literarisch in eine düstere, aber nicht hoffnungslose Geschichte ein. Das Dramatische wird im Roman mit Humor begleitet. Der Klang ist stets rhythmisch und die kurzen Kapitel werden nicht selten durch Zeichnungen, Fotos, Handschriften oder Sonderzeichen ergänzt. Alles passt gekonnt zusammen und bringt den Roman zum Schwingen und wenn wir beim Bild bleiben wollen, zum Kreisen. Übersetzt wurde der Roman aus dem brasilianischen Portugiesisch von Maria Hummitzsch.

Der Anfang beginnt kindlich, märchenhaft in einem Randbezirk von Rio de Janeiro. Doch verströmt die beschriebene Kulisse gleich in den ersten Zeilen Gestank, der aus heißem Schlamm emporsteigt. Die Hitze ist fühlbar und ist für den Erzähler stets unangenehm. Camilo schaut als erwachsener Mann zurück und erinnert sich an jene Tage, als er dreizehn Jahre alt war. Es ist das Jahr 1976 und er lebt mit seiner Schwester behütet in einem geschützten Anwesen. Camilo sieht, aber schaut nicht wirklich hin. Er ist kindlich, weiß dass sie in einem ehemaligen Sklavenviertel wohnen, aber kann es nicht fassen. Auch die Eltern werden nicht gänzlich von ihm gesehen. Das Land wird durch die brasilianische Militärdiktatur beherrscht. Camilo leidet körperlich, ist mal im Rollstuhl, dann von Krücken abhängig und wenn es besser geht, reicht ihm ein Stab. Eines Tages kommt der Vater von der Arbeit heim und bringt den Waisenjungen Cosme mit. Dieser ist etwas älter und zieht mit ein. Camilo ist anfänglich nicht begeistert. Erkennt aber seine Liebe zu Jungs und verliebt sich in Cosme.

Als Erwachsener erkennt Camilo mehr als damals und hat auch mehr Wissen. Denn sein Vater war als Doktor Pablo bekannt. Für den Jungen klingt es positiv, wenn es heißt, sein Vater half den Gefangen, am Leben zu bleiben. Dass dies bedeutet, dass sein Vater ein Folterarzt war und Cosme womöglich Kind seiner Opfer ist, erschließt sich ihm langsam.

Die junge Liebe zwischen Cosme und Camilo währt nur wenige Tage. Es ist eine Zeit, in der Camilo mehr über seine Umgebung erkennt und erfährt. Die Innigkeit wird dann zerstört durch ein Drama, das Camilos Leben gänzlich verändert. Er kehrt als Erwachsener gedanklich zurück zu jenen Tagen und erfühlt die erste Liebe, die seine wahre war und alle anderen lediglich ein Abglanz. Menschen katalogisiert er. Eine Liste von Mitschülern ist sein Abbild der Gesellschaft. Eine weitere Liste von Menschen mit den Namen ihrer ersten Liebe taucht auf. Diese hat Victor Heringer durch einen Aufruf erstellt und somit wirkt vieles in diesem Roman erschreckend authentisch.

Ein weiteres Drama rankt sich um diesen Roman. Denn Victor Heringer wurde 1988 in Rio de Janeiro geboren und war ein Multimedia-Künstler. Seine Literatur machte ihn schlagartig bekannt. Doch lange litt er an einer Depression und verstarb 2018. Dieser Roman fasziniert, erschrickt und verändert. Ein wichtiges und lesenswertes Werk.

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