Juri Felsen: „Getäuscht“

In diesem Roman tritt uns ein introvertierter Held entgegen, der ganz genau Tagebuch führt. Er leidet, schmachtet und jammert. Dies aber auf glamouröse Weise, die zu begeistern versteht. Es sind elegante Satzkaskaden, die eine Gefühlswelt zu einer raumfüllenden Literatur machen. Der Erzähler lebt nach der Russischen Revolution in den zwanziger Jahren als Emigrant in Paris, der Welthauptstadt der Künste. Es ist eine bedeutende Stadt der russischen Emigration geworden. Die Oktoberrevolution 1917 hat viele in die Flucht getrieben und einige davon ließen sich in Paris nieder. Die meisten wurden mittellos und agieren zum Beispiel als Taxifahrer oder arbeiten schwer in den Werken von Renault. Viele hatten den Weg über Berlin genommen, doch wurde dann Paris die Metropole der russischen Kultur im Ausland.

Der Autor, Nikolai Bernhardowitsch Freudenstein kam 1894 in Sankt Petersburg zur Welt. Die jüdische Familie sah sich zur Flucht gezwungen, als die Beschränkungen zunahmen. Die Reise ging über Lettland und von dort immer weiter Richtung Westen. Es erschienen bereits Texte von ihm, aber er wurde gänzlich in Paris schriftstellerisch tätig und nannte sich Juri Felsen. Der Poet saugte die Stadt in sich auf und plante einen mehrbändigen Romanzyklus um einen Schriftsteller. Er wird mit Proust verglichen und beeinflusste seine Generation. 1943 wurde Juri Felsen nach Auschwitz deportiert und ermordet. Sein Werk geriet in Vergessenheit und wurde jetzt wiederentdeckt und von Rosemarie Tietze übersetzt und mit einem Vorwort versehen. Das Buch beinhaltet ferner ein Nachwort von Dana Vowinckel.

Der Erzähler führt Tagebuch und hält sein Innenleben fest. Er betrachtet sich genauestens und empfindet sich dem Umfeld enthoben. Doch als ein Teil der Gesellschaft ist er hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Anerkennung und Distanzierung. Er erkennt, zu seinem Bedauern, dass er doch viele Gemeinsamkeiten mit den anderen hat und wohl auch genauso sang- und klanglos verschwinden wird. Er hat Geldsorgen, er macht sich allgemein viele Sorgen und Gedanken. Äußerlichkeiten interessieren ihn weniger. Er ist sich selbst Betrachtung genug. Dabei stellt sich eine Wehmut ein, die aber mit bittersüßem Humor eingefangen wird. Er wird liebestoll, denn ein Brief einer Bekannten aus Berlin kündigt den Besuch ihrer Nichte Ljolja in Paris an. Das was er über Ljolja hörte und weiß, lässt seine Gefühlswelt aufbrodeln. Mit Hochspannung erwartet er ihre Ankunft. Sein Wunschdenken und seine Phantastereien übertreffen dabei die Realität. Ljolja ist charmant und klug, doch weniger an ihm interessiert, als er es wünscht. Dadurch stellt er seine Beschützernatur und sein liebreizendes Sein immer mehr in Frage und verrennt sich in seinen Gedanken, die ihn und sein Handeln auch ins Lächerliche führen.

Ein eleganter, kluger und scharfzüngiger Roman. Die Tiefen des Innenlebens werden ganz genau beleuchtet. Dabei pendeln die Betrachtungen zwischen Melancholie, Wehmut und Humor. Ein Roman, der in den Reigen der Weltliteratur gehört. Juri Felsen ist ein kluger Sprachkünstler und Gefühlsdompteur.

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