
Die Romane von Tarjei Vesaas verwandeln die beschriebene Welt und somit auch stets die unsere. Es sind Werke, die uns berühren und jeweils verändert aus den gelesenen Zeilen herausschauen lassen. Die Eltern sind fort und die Kinder haben einen Abend und die Nacht das Haus für sich. Dann klopft es an der Tür und alles verändert sich und am Morgen ist nichts mehr, wie es einmal war. Tarjei Vesaas schreibt feinfühlig, subtil und lässt Dinge unausgesprochen, um dadurch einen Raum zu erzeugen, den wir gerne betreten und ungern verlassen würden. Durch diese Lektüre erkennen wir, wie das Umfeld wandelbar ist. Dies ist der Zauber der Literatur von Vesaas. Seine Sprache lebt von der erzeugten Emotion. Diese Stimmung bewirkt eine Hingabe zu den Protagonisten und zum Handlungsverlauf, dessen Ende wir vermeiden, aber auch sehnsuchtsvoll und voller Spannung erreichen möchten.
Tarjei Vesaas wurde 1897 in Norwegen geboren und wuchs auf einem Bauernhof auf. Er starb 1970 und ist ein bedeutender und bewunderter Autor Norwegens. Mehrfach war Vesaas sogar für den Literaturnobelpreis im Gespräch. Seine Werke erzeugen aus einer Stille eine sich steigernde Schwingung, die das Drama offenbart. Die lesenswerten Übersetzungen sind: „Das Eis-Schloss“, „Die Vögel“ und „Der Keim“. Nun reiht sich in diese Werke „Frühlingsnacht“ ein, das 1954 im Original verlegt wurde und nun in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel erschienen ist. Alle seine Romane sind Wunderwerke.
Die Frühlingsnacht verspricht etwas Erwachendes, etwas erneuert sich. Die Natur belebt sich und eine innere Unruhe breitet sich aus. Dies spüren wir anhand einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich begegnen und die naive Sicht verändert sich innerhalb weniger Stunden. Denn der Hauptcharakter ist der vierzehnjährige Hallstein, der mit seiner älteren Schwester Sissel allein zuhause bleibt. Durch das Wegsein der Eltern über Nacht fühlt sich das Haus anders an. Der emotionale Druck wird genommen. Eine gefühlte Freiheit entspringt in den Gedanken von Hallstein. Sissel wird mit ihren achtzehn Jahren von einem Nachbarsjungen umgarnt, der auch gerade in ihrem Zimmer ist. Doch eine Unstimmigkeit lässt diesen gehen. Hallstein ist ein genauer Beobachter, der alles sieht, aber nicht immer versteht, was er erlebt. Beim draußen herumstreunen trifft er auch wieder diesen Nachbarn und gerät in dessen Gedankenkarussell und soll als Botschafter fungieren. In Folge ist es stets Hallstein, der durch seine Jungenhaftigkeit in Verpflichtungen genommen werden soll, die er nie ganz versteht und ihn auch überfordert. Denn am selben Abend klopft es an der Tür und eine fremde Familie steht vor der Tür. Sie hätten eine Autopanne gehabt und eine der Frauen ist hochschwanger. Sie benötigen Unterkunft und Hilfe. Sissel und Hallstein helfen und gewähren für die Nacht Unterkunft. Hallstein, der mit seiner Imagination und Phantasie spielt, muss oft staunen, was jetzt um ihn passiert. Seine imaginäre Freundin bekommt durch das Auftauchen eine reale Mitspielerin. Es ist ein Kammerspiel, das aus unausgesprochenen Konflikten ein Chaos erzeugt. Die Menschen, die in das Haus eingedrungen sind verursachen Unheimliches und das Vertrauen schwindet, als eine Frau, die angeblich nicht zu gehen oder sprechen vermag, im Auto geblieben war und nun dazukommt. Sie spricht aber, wie Hallstein erfährt, und sie ist die erste, die ihm ein Versprechen abringt. Alle benehmen sich im Haus der Kinder raumeinnehmend und alle wirken aufgeregt und handeln nicht, wie man es von Erwachsenen erwarten würde.
Durch den Weggang der Eltern, die zu einer Beerdigung gefahren sind, haben die Erwachsenen die Szenerie verlassen. In der Frühlingsnacht erleben wir Freiheit, Trauer, Verlust, Freundschaft und Trost. Vieles wird aber lediglich angedeutet und lässt sich nur erahnen. Es entsteht eine poetische Welt, die langsam mit dem Dämmerungswechsel des Abends, der Nacht und des Morgens nuanciert und beleuchtet wird.
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