
Ein Seil kann Lebensretter sein, kann Verbindungen schaffen. Es kann lösen aber auch fesseln. Hier taucht ein Seil auf, das mit einem tatsächlichen Seil nichts zu tun haben muss. Anna Herzig schreibt zielführend, aber erschafft eine Handlung, die Kunstvolles, Verwirrendes und Surreales erzeugt. Ihre Sprache wird zu einem wuchtigen Sprachraum, der voller Leidenschaft, Schmerz, Verzweiflung und Hoffnung ist. Es geht um eine erfolgreiche Schriftstellerin, die mit ihrem Erfolg Menschen anlockt, die nun ihre Ansprüche anmelden. Sie verbarrikadiert sich, nicht nur innerlich, daraufhin.
Der Hauptcharakter, Franziska, hat früh gelernt sich zu verstecken, zu verkleiden. Sie wartet auf die Preisverleihung in ihrer Wohnung, doch die Vergangenheit rüttelt an den realen und seelischen Türen. Sie steht als Autorin endlich im Rampenlicht und möchte eigentlich gesehen werden, also muss sie langsam hervortreten und sich zeigen. Sie hat unerwartet einen renommierten Literaturpreis für ihren Text „Das Seil“ erhalten. Doch stammt der Gewinnertext nicht von ihr.
Mit dem ausgeloteten Preisgeld melden sich ihre Tante, ihr Cousin, ihr Ex-Freund und ihre Literaturagentin. Also bleibt ihr nichts anders übrig, als die Türen geschlossen zu halten. Doch innerlich bricht alles hervor. Denn ihre Kindheit war keine wohlbehütete. Nachdem ihr geliebter Großvater, ein Schriftsteller, verstorben ist, kommt Franziska als junges Kind zu ihrer Tante und ihrem Cousin. Zuwendung oder Heimeliges wurden durch Tobsuchtsanfälle oder durch das unterschwellig Bedrohliche ersetzt. Hier lernt sie das Fürchten kennen und erkennt das Monströse im Menschen.
In der Gegenwart hat sich Franziska in ihre eigene Wohnung zurückgezogen. Sie plant die Preisverleihung und überdenkt ihre Verkleidung. Sie ignoriert die Anrufe, aber später tauchen die Menschen auf, die einen Teil des Preisgeldes fordern und hämmern gegen die Tür. Die Belagerung der Wohnung und ihrer Seele lässt sich nicht aufhalten, die Erinnerungen kommen und sie muss sich zeigen. Der Text „Das Seil“, der nun ausgezeichnet wird, verarbeitet vieles, doch stellt sich die Frage, wer hat ihn geschrieben?
Anna Herzig baut mit ihrem Roman ein verschachteltes Puppenhaus, in dem es viele Verstecke gibt. Somit werden wir sprachlich und inhaltlich mit jeder Begehung aufs Neue überrascht. Das Puppenhaus, das entsteht, ist wie ein Trichter, der Windungen, Verzerrungen und Wiederholungen auf unterschiedliche Ebenen holt. Das Unterbewusste und das Verdrängte werden lebendig und spielen mit dem Hauptcharakter und dann mit der Wahrnehmungsebene des ganzen Romans.
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