Feridun Zaimoglu: „Sohn ohne Vater“

„Sohn ohne Vater“ ist ein ganz persönliches Werk, das versucht die Leere nach dem Tot des Vaters zu verstehen und zuzulassen. Der Verlust und der Schmerz erzeugen eine Wirrnis im Herzen und im Kopf, die der Handlung seine Haltung verleiht. Denn es wird ein Roadtrip, der den Wirklichkeitsbezug zu entkräften vermag und doch ist es Feridun, der als Erzähler auftritt und dann sein Ich in seiner Kunst verschwinden lässt.

Feridun Zaimoglu schlüpfte bereits in einige Persönlichkeiten in seiner Roman- und Bücherwelt. Seine Kunst ist es dann stets, die Realität durch Fiktion auszuhebeln. Der in Kiel lebende Autor behauptet diesmal, es selbst zu sein. Diese Romanrealität erhält durch den persönlichen Verlust einen Tiefgang, der viel Raum für Emotionen erzeugt und mit diesen Gefühlsmomenten spielt. Die innere Einsicht bekommt durch die lange Reise eine Erdung, die neben dem Durcheinander in der Seele auch das Chaos auf die Straßen Europas trägt und eine enorme Spannung erzeugt.

Feridun ist nicht unser direkter Nachbar, aber doch wohnen wir im selben Viertel und kennen uns bereits flüchtig gut. Ich hatte ein Anliegen an ihn und rief ihn an, er nahm ab, sagte er sei in der Türkei bei seiner Mutter und sei ganz entrückt und fokussiert und würde sich erst aus Kiel wieder melden. Durch dieses kurze Gespräch, bekommt das vorliegende Buch eine noch deutlichere Klarheit.

Es beginnt ebenfalls mit einem Anruf. Seine Mutter ruft an und sagt, sein Vater sei in der Türkei gestorben. Um dies zu begreifen und den Schmerz zu erfassen, irrt er durch Kiel. Er ruft seine Schwester an und beide weinen. Das eigene Gesicht scheint in der Trauer zu zerbrechen. In der Odyssee durch Kiel trifft er auf Bekannte und solche, die es gerne wären. Er sagt, er habe keinen guten Tag. Er müsse zu seinem Vater, der bereits beigesetzt wird. Er leidet unter enormer Flugangst und hat einen Führerschein, den er aber nicht nutzt. Um sich vom Vater verabschieden zu können und um bei der Mutter zu sein, ist eine Reise nötig. Freunde, die er besucht, kommen auf die Idee der gemeinsamen Reise. Geld muß organisiert werden, denn eine Reise kostet und als Künstler ist das Geld oft knapp. Seine Freunde leihen einen Wohnwagen und einer fährt Zaimoglu durch Europa. Eine lange Fahrt durch Deutschland, Österreich, Ungarn, Serbien, Bulgarien in die Türkei.

Seit dem Anruf der Mutter ist der Kopf voller Erinnerungen an den Vater. Aus Ehrfurcht siezt der Sohn die Eltern. Erinnerungen an seine Kindheit, Jugend und das angefangene Medizinstudium. Sein Vater kam als Arbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Es sind Erinnerungen an viele Leben, Möglichkeiten und Geschichten. Geschichten, die für einen jetzigen Geschichtenerzähler nicht immer verbindlich sind. Somit werden die vergangenen Momente mehr Gefühlsfragmente und folgen nicht zwingend einer realen Logik. Menschen, die uns am nächsten stehen, können zu Seltsamen und auch zu Fremden werden. Der Vater als gebildeter Mann, der bei der Arbeit, in Feriensiedlungen und innerhalb des Lebensumfeldes für Aufsehen sorgte. Dies lag nicht allein an seinen gefärbten Koteletten. Er konnte stets vermittelnd eingreifen und sah Deutschland als seine Heimat an. Dies alles macht sich der Erzähler und Feridun zu eigen. Doch durch den Verlust fremdelt der Erzähler und die ganze Welt wird ein fremder Ort. Er ist unter Menschen und doch allein und ringt mit den Gedanken und Gefühlen. Auf der Fahrt trifft er auf seltsame Menschen, gerät in brenzlige Situationen und hat bei der Einreise Probleme, weil die Fahrzeugpapiere lediglich Kopien sind.

Durch die Trauer und den Aufbruch verrutschen die Wahrnehmungen. Hat sich alles tatsächlich so ereignet? Soll der Erzähler den Fahrer unterhalten oder stört er durch seine Geschichten und Gefühlsmomente?

Ein sehr persönlicher Roman über Verlust, Liebe, Aufbruch und letztendlich Ankommen. Das Wirren im Erzähler gibt den Klang des Textes vor. Feridun swingt sich beim Lesen und Schreiben stets ein, um seinen Ton zu finden. In diesem Werk spielt er mit den Tönen und Lebensperspektiven und reißt uns mit. Ein typischer und doch untypischer Zaimoglu, der zu begeistern versteht und uns direkt in die eigenen Empfindungen und Fragen reisen lässt.

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