
Colette, eigentlich Sidonie-Gabrielle Claudine Colette ist eine bedeutende Wegbereiterin der Literatur, besonders der französischen und der feministischen. Ihre Werke strahlen bis in die Gegenwart und haben an Aktualität wenig eingebüßt. Ihr Leben und Werk verbinden sich und sind eigentlich selbst Geschichte genug, um noch mehr Anerkennung zu erhalten als bisher. Zumindest im deutschsprachigen Raum steht sie noch nicht im gebührenden Licht. Dies konnte auch die Filmbiografie „Colette“ (2018) von Wash Westmoreland mit Keira Knightley und Dominic West leider nicht groß ändern. Sehenswert ist der Film unbedingt, denn er verschafft einen Einblick in das Leben und Werk der besonderen Autorin, deren Werke zu den Klassikern gehören. Ihr bekanntestes Werk ist „Chéri“, das in einer schönen, bibliophilen und neuen Übersetzung von Renate Haen und Patricia Klobusiczky erschienen ist. Ein informatives Nachwort verfasste Dana Grigorcea.
In dem Roman von 1920 werden aktuelle Fragen behandelt. Ist Liebe alles und kann sie uns Glückseligkeit schenken, uns sogar verjüngen? Meist sind es männliche Protagonisten, die ihrem Begehren nachgeben und dies formulieren. Colette verlässt bereits damals diese Geschlechterklischees. „Chéri“ sorgte damals für Empörung und kann somit heute umso mehr begeistern. Es geht um die Endvierzigerin Léa, eine ehemalige Kurtisane, die eine Liebesbeziehung zu einem viel jüngeren Mann, jenem titelgebenden Chéri, führt. Ihre Gefühlswelt, ihr Begehren stehen dabei in der genauen Beobachtung. Das Sezieren der gesellschaftlichen Verpflichtungen, Bilder und Umbrüche wird unterstützt durch die Dialoge, die giftig-zynisch formuliert sind. Die Sprache verwebt die Anspielungen und den gesprochenen Tiefgang mit einer faszinierenden Leichtigkeit. Es ist eine körperliche Bindung, die beiden viel bedeutet, aber auch jeweils das Unmögliche vor Augen führen. Es bedeutet auch nicht das Ende der Beziehung, als er eine jüngere Frau heiratet. Das Frivole erhält in diesem Spiel neben dem psychologischen Tiefgang seine Bühne und dreht die üblichen Verhältnisse der Gesellschaft frech und lustvoll um. Inspiriert wurde der Roman durch das eigene Leben der Autorin. Als Sechsundvierzigjährige geht sie eine Beziehung mit ihrem minderjährigen Stiefsohn ein, und führt diese, wie ihre Romanfigur, fünf Jahre fort.
Alles um Colette erzeugt eine Neugier. Alles strotzt und trotzt dem Althergebrachten und beschreibt mit spitzer Feder den Konventionen gebührende Gegenstücke. Sie inszeniert sich und ihre Werke. Alles ist bühnenreif und provokant. Durch ihre Heirat mit dem erfolgreichen Pariser Schriftsteller und Theaterkritiker Henry Gauthier-Villars, den alle lediglich als Willy kennen, kommt sie vom Land in die Weltmetropole. Sie wandeln in der Gesellschaft und bleiben sich nicht treu. Er erkennt ihr Talent und nutzt sie aus. Er, der Schriftsteller, lässt nämlich schreiben. Sie schreibt eine erfolgreiche Romanreihe, die er unter seinem Namen veröffentlicht. Es geht um die Ich-Erzählerin „Claudine“, die den Werken auch die Titel gibt und beinhaltet viele biographische Geschichten. Willy versteht es, diese Romanwelt zu vermarkten und durch das Merchandise und die Fortsetzungen bekommen die Werke damaligen Kultstatus. Die Ehe hält nicht und nach der Scheidung schreibt sie weiter, erlernt Pantomime und ist auf den Bühnen zu erleben. Einiges sorgt für Skandale. Sie schreibt Literatur, Bühnenwerke und ist journalistisch tätig. Durch ihr Leben und ihren Beziehungen lernt sie empathisch und lebensnah zu schreiben. Die beschriebenen Frauenschicksale sind psychologisch durchdacht und fallen durch den unkonventionellen Lebensstil auf. Sie kritisiert, merkt auf und spielt mit den gesellschaftlichen Erwartungen. Lange blieb sie unterschätzt, ungesehen, aber ihr Ansehen wuchs und darf nun durch die großartige Neuübersetzung von „Chéri“ gerne weitere Beachtung finden.
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