
Wenn wir lange auf das Wasser blicken, fließt das Meer ebenfalls in uns und breitet sich innerlich aus. So ist es auch mit Literatur. Literatur geht weiter und verbindet Wissen mit Emotionen und Empathie. Der französisch-algerische Schriftsteller Kamel Daoud wurde mit dem Literaturpreis Prix Goncourt 2024 ausgezeichnet. Das prämierte Buch „Huris“ ist ein Roman über den algerischen Bürgerkrieg und seine Auswirkungen. Es ist ein Roman über die Gewalt von Männern gegen Frauen und ein literarisches Meisterwerk, das von einer Frau handelt, die von zwei Stimmen erzählt. Einer, die körperlich ist und verstummt und einer innwendigen, die jene eigentlich hörbare Stimme überstimmt. Es kommt durch die Lektüre eine weitere hinzu, die eigene, unsere, die ebenfalls verstummt vor Scham, Ungläubigkeit und Mitgefühl.
Es ist die Geschichte der jungen Algerierin Aube. Sie wurde als kleines Kind während des Bürgerkrieges in den 1990er Jahren verwundet und entkam dem Massaker der islamistischen Milizen. Eine tiefe Narbe zeichnet sie. Sie nennt es ihr zweites Lächeln und die beschädigte Luftröhre zwingt sie zum Atmen durch eine Kanüle. Auch feste Nahrung kann sie nicht aufnehmen und ihre Mutter, Khadija, gibt nicht auf, an ein medizinisches Wunder zu glauben und bereist die Welt, um ihre Tochter von ihren körperlichen Leiden zu befreien. Was sie ihrer Mutter bisher nicht traute zu sagen ist, dass sie schwanger ist. Sie möchte das ungeborene Kind vor einem Leben in dieser gewaltvollen Männerwelt bewahren und hat bereits Maßnahmen organisiert, um das Kind in den Himmel zurückgehen zu lassen. Doch bevor sie jenen Schritt geht, erzählt sie dem Kind ihre Geschichte. Sie hat keine hörbare Stimme mehr, eher eine Verlautbarung, doch ihre innere Stimme ist laut und voller Wissen. Dieses überträgt sie nun an das ungeborene Kind und beginnt zu berichten.
Aube betreibt jetzt einen Friseursalon in Oran. Dadurch hat sie wenige Freiheiten und kann anderen Frauen ebenfalls etwas Schönheit und Freiheit schenken, wenn die Männer sich zum Gebet treffen. Es sind Frauen, die für sie arbeiten oder zu ihr kommen, die jene kleine Zuflucht aufsuchen. Frauen, die immer unter der Beobachtung und dem Einfluss der Männer stehen. Sie sind Mütter oder Ehefrauen und doch innerhalb der Gesellschaft nicht toleriert, wenn nicht sogar als Schandfleck deklariert. Gegenüber ihres Salons ist eine Moschee und es keimt ein innerer und äußerer Konflikt zwischen dem Wunsch nach Freiheit und dem strengen Reglement der Gläubigen. Aube erzählt, was sie erlebte und wahrnimmt. Sie nennt das Kind liebevoll ihre Kleine Huri. Ihre Mutter reiste gerade nach Brüssel, um einen Arzt aufzusuchen, der eventuell Aube heilen und ihre Stimme zurückzugeben vermag. Doch ist auch diese Reise ziellos und Khadija meldet ihre Rückreise an. Somit bleiben Aube nur noch wenige Tage, um Huri alles zu erzählen, denn wenn sie aufhört, sagt sie, will sie Huri gehen lassen. Denn wie kann sie Leben schenken, wenn es ihr selbst fast entrissen wurde? Wie kann sie mehr Liebe schenken, als das Kind in das Paradies zurückgehen zu lassen.
Dieser Roman überflutet uns und eine Stimme, die anfänglich leise und dann immer raumeinnehmender wird, breitet sich in uns aus. Es ist die Klangfarbe von Aubes Bericht und von allen unterdrückten, misshandelten und gepeinigten Frauen. Ein intensives Leseerlebnis, das bildreich und kraftvoll eine Geschichte erzählt, die sich ins Mannigfaltige steigert. Die Reise geht über die Stimme, zum Labyrinth bis hin zum Messer. Bei der Lektüre werden wir zu Zuhörern und Zeugen. Das ungerechte und unberechenbare Leben wird hier literarisch spürbar gemacht und reißt uns wie eine ungeahnte Flut mit sich und fasziniert. Ein schönes, ein wichtiges, ein unfassbares Werk, das den Inhalt in eine wunderbare Erzählstimme verpackt. Aus dem Französischen wurde „Huris“ von Holger Fock und Sabine Müller übersetzt.
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