
Lyrik kann zuweilen wie ein Spaziergang in der Natur sein. Es ist alles da und die Gedanken verändern sich. Der Umraum nimmt Einfluss auf den Innenraum und aus dem Blick von innen nach außen fließt auch etwas zurück. Wir Küstenkinder kennen und lieben ihn, den beständigen Klang der Möwensprache, ein Ruf, der nach Freiheit klingt. Die Gedichte von Gyrðir Elíasson schauen auf das Umfeld des textenden Ichs und auf die Welt. Die Sprache der Möwen taucht unverstanden auf und der Betrachtende blickt stets in die Natur, die in ihren Erscheinungsformen Verständnis zu haben scheint. Wirken die Sterne nicht zuweilen wie gelbe Tennisbälle und wir warten darauf, dass ein Schläger in Erscheinung tritt. Dies alles verknetet sich am Ende der Sammlung im Trollteig. Somit wird auch die nordische Sicht einbezogen.
Mit den Gedichten wandern wir nach dem Frühling, ersteigen Hügel im Wind, hinterlegen ein Gästebuch in der Nacht und treffen den Freund der Gräser im Haus unten im Tal. Es sind Texte, die überall die Schönheit zelebrieren, eine Schönheit der Welt und Natur, die seit Anbeginn vergänglich ist. Das, was diese Lyrik vereint, ist die Zugänglichkeit durch die erzählerischen Inhalte, die mit einem zarten Klang Anregungen zum Nachsinnen und Reflektieren anbieten. Es sind Betrachtungen und Gedankengänge, die philosophische Fragen aufwerfen. Der Platz im Leben, der eigene, der gesellschaftliche und der des Menschen innerhalb des Umraums.
Diese zweisprachige Ausgabe ist eine Auswahl an Gedichten von Gyrðir Elíasson, die sein ganzes Können wunderbar einfangen. Aus dem Isländischen wurden die Texte von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer übersetzt. Lyrik und Literatur zu übersetzen verlangt eine ganz eigene Fähigkeit, denn Literatur ist Kunst und jedes Wort ist meist durchdacht und dann nicht nur Vokabular, sondern ein Transporteur, der mit Sinn und Klang passend eingesetzt wurde. Rhythmus und Gerüst müssen sich der Vorlage anpassen. Durch die Gegenüberstellung der originalen Gedichte und der Übersetzungen innerhalb dieses Werkes, können wir versuchen, diese kunstvolle Arbeit zu begreifen.
Es ist sinnvoll, diese Ausgabe, diese Auswahl an Gedichten chronologisch zu lesen. Zumindest beim ersten Erfassen, danach kann immer wieder der Spaziergang durch die Texte von anderer Stelle begonnen werden. Auch wenn wir meinen, alles gesehen zu haben, findet sich immer wieder neues Interessantes. Die Einbildung, etwas verinnerlicht zu haben, kann zum Beispiel auch wie jener Fisch sein, der im dunklen Fischgrund dieser Sammlung zu sein scheint. Das Schöne und Humorvolle findet sich immer, auch in nackten Geröllfeldern, im abgestorbenen Gras und an verregneten Tagen. Diese Gedichte sind Sprachfotografien, die sich, nachdem sie gelesen wurden, anfangen in unseren Köpfen zu entwickeln.
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