
Wohl das Buch der Stunde, denn es zeigt mit viel Witz und Empathie den Versuch der individuellen Selbstachtung gegenüber dem System. Gerade jetzt, wo die Diskussion beginnt, dass Kultur und der Sozialstaat nicht mehr haltbar sind. Ein Roman, den wir allen zum Lesen geben sollten, die mit einem Wohlstandsgrinsen behaupten, uns geht es doch zu gut. Es ist ein Text, der gegenwärtig ist und mit einer besonderen Erzählweise geschrieben wurde. Denn wie sollte das aktuelle Gerechtigkeitsempfinden mit einer einzigen Erzählstimme einfangen werden können? Der Roman wird belebt durch unterschiedliche Perspektiven, die um das Umfeld des Protagonisten agieren. Die eigentliche Ich-Erzählerin ist eine Person innerhalb des Behördenkomplexes, die versucht das individuelle Schicksal zu verstehen und eine tatsächliche Hilfestellung anzubieten. Sie erzählt die Handlung und somit wird der Hauptcharakter aus ihrer Sichtweise zu einem Du, das uns somit alle ansprechen könnte. Denn das geschilderte Schicksal ist realistisch und könnte uns alle betreffen oder berühren.
Es ist ein Text, der auf uns einwirkt und besondere Mechanismen loslöst, die uns emotional mitreißen. Eine Welt, die uns lehrt, dass Geld das einzige ist, das Gewicht hat, aber uns leichter werden lässt. Es ist das System das erkrankt und die Menschen auf beiden Seiten, die beurteilen und abwägen, sind ebenfalls dem Reglement unterworfen, wie jene, die Forderungen stellen und sich den immer abgeänderten Maßnahmen unterwerfen. Die Sozialhilfe ist nur mit auferlegten Bedingungen zu beziehen. Doch wer überprüft jene, die genau diese Regeln überprüfen und die Spielräume deklarieren? Wir haben innerhalb des Systems zu funktionieren. Sollten wir durch das gesellschaftliche Raster fallen und Hilfe benötigen, wird uns eine Bemühungspflicht auferlegt. Um diese geht es im Roman und um dessen Auswirkung, um die Bürokratie und Ungerechtigkeit.
Manfred Gruber hat eine Lehre als Metzger gemacht, weil er als junger Mensch dahingehend von der Familie gedrängt wurde. Ein Beruf, den er nicht mochte und durch weitere private Abzweigungen innerhalb des Lebenslaufes ist er nun Sozialhilfeempfänger. Er lebt in Trennung und hat einen erwachsenen Sohn. Er wohnt allein im geerbten Elternhaus. Die Nachbarn und die Behörden haben jeweils eigene Sichtweisen auf ihn und erzählen aus unterschiedlichen Perspektiven. Als Manfred, kurz Fred, einkaufen geht, merkt er an der Kasse, dass er sich den Orangensaft nicht mehr leisten kann. Er hat seinen Antrag rechtzeitig und mit allen erforderlichen Dokumenten eingereicht. Dennoch blieb die Zahlung aus und er versucht dies mit den Behörden zu klären, warum er benachteiligt wurde. Sein Antrag wurde noch nicht bearbeitet und neue Bestimmungen sollen demnächst auch für ihn umgesetzt werden, denn er hat ja das Haus und Grundstück. Es gab Vorfälle, die die Behördenmitarbeiter ängstlich werden ließen, weil Antragsteller aggressiv reagierten. Somit verkeilt sich die Sicht zwischen Antragstellern und den Sachbearbeitern. Manfred Gruber versucht stets, den Anforderungen Folge zu leisten und doch ist er auffällig, weil er auch gerne Beschwerdebriefe schreibt und an Misanthropie und unter mangelndem Selbstvertrauen leidet. Geht es noch um Würde, um Erhalt der Lebensbedingungen oder einfach um das einfache Recht auf Leben? Somit schaukeln sich die Stimmungen hoch und die Nachbarn werden Zeuge von Ereignissen, die in Folge sogar die Medien interessieren.
Mit einer enormen Sachkenntnis und Humor tauchen wir in die wechselnden Perspektiven ein, die innerhalb weniger Tage unser gesellschaftliches System beleuchten. Der Misstrauensvorwurf gegenüber den kleinsten Einheiten innerhalb des Wertesystems macht betroffen und lässt es nicht mehr zu, dass weggeschaut wird. Ein eindringlicher Text, der detailverliebt einen großen Kosmos öffnet, der sprachlos macht, uns lachen lässt, wenn es nur nicht so realistisch wäre.
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