
Yulia Marfutova stellt anhand ihres Romans die Frage nach Herkunft. Die Erzählenden leben in einem anderen Land als ihre Mutter geboren wurde. Die Mutter, Marina, schweigt über ihre Jugend in der Sowjetunion der 1980er Jahre.
Wenn das menschliche Drama uns überragt, kann lediglich das Märchenhafte einspringen. Das Fabelhafte, das Phantastische entspringt einer Realität und tritt ein, wenn es schwer fällt über das Grauenhafte zu sprechen. Wir verdrängen, flüchten oder schweigen. Doch können die Zeitzeugen bald nicht mehr berichten und somit wächst in den folgenden Generationen eine verständliche Neugier und ein Wissensdrang. Doch was ist, wenn es ein Schweigen bleibt und wir uns nur noch das vorherige Leben vorstellen können?
Die Töchter von Marina stellen sich Fragen und denken sich mögliche Szenarien aus. Da das wirkliche Schicksal und Drama noch im Verborgenen liegt, kommen weitere Stimmen hinzu. Die Stimmen kommen von leicht überheblichen Mäusen, die über ein enormes Wissen zu verfügen scheinen. Doch der magische Realismus und dieser Kunstgriff, der sprechenden Tiere, die über den zeitgenössischen Roman eine zarte Fabel legen, werden gegenüber der immer stärker heraustretenden Geschichte stiller. Es ist ein ganz zarter, poetischer Text, der in sich menschliche Dramen verbirgt und offen legt. Es ist eine Familien- und eine jüdisch geprägte Herkunftsgeschichte. Marina träumt davon, die Sowjetunion zu verlassen. Ihre Töchter erkunden später, warum sie ging. Wie war ihr Leben als junge Frau? Die Töchter kennen ihrer Großmutter Nina nicht und diese wird dennoch phantastisch realistisch. Eine Ingenieurin, die sachlich mit Zahlen spielen konnte, aber auch das Wahrsagen beherrschte. Ingenieurskunst stellt sich bei den Betrachtungen gegenüber den Traumphantasien. Die umstürzenden Entwicklungen bringen gesellschaftliche Veränderungen und die Vergangenheit wird von Mäusen berichtet, die ebenfalls in dem Comicroman „Maus“ von Art Spiegelman das Drama erzählen.
Erzählt wird nicht nur durch die ungewöhnlichen Erzählstimmen mit feiner Ironie. Die Lebensrätsel werden durchschaubar, aber nicht alles wird gänzlich ausgesprochen. Die Luftschlösser wachsen und verändern sich durch Überschreibungen, wie ein immer neu geschriebener Brief. Neben dem Heiteren, den zarten Betrachtungen und fabelhaften Spielereien, keimt das Verheimlichte, das erst gegen Ende immer deutlicher wird.
Ein geistreicher Roman, der kurz ist und doch viel erzählt. Das Spiel zwischen den Relationen und Realitäten gelingt großartig und am Ende erfasst es uns gänzlich. Wir Menschen möchten eigentlich den verrückten und bedrückenden Weltenrealismus nur durch das Märchenhafte begreifen.
Am 29.10.2025 war die wunderbare Yulia Marfutova bei uns zu Besuch. Sie lebt in Boston und kam aus Bremen nach Kiel für eine Lesung im Literaturhaus. Wir haben für Leseschatz-TV über ihren fantastischen Roman „Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel“ kurz gesprochen.
Wir haben uns unglaublich über den Besuch gefreut!