
Ein Buch, das tatsächlich Gewicht hat. Es ist eine Literatur, die uns fragen lässt, mit welchen Gedanken wir in den Zeilen verweilen und mit welchen Emotionen wir diese verlassen. Bücher sollen gefallen, aber müssen sie, um in uns zu bleiben, Wohlfühlmomente auslösen? Literatur ist dazu da, um uns unbekannte Welten, Gedanken und Ereignisse zu zeigen. Literatur kann mehr sein als ein Sachbuch, das durch Fakten besticht. Die Kunst der Erzählung weckt neben den wahren Ereignissen unser Mitgefühl, unser Empfinden und verankert sich dadurch viel stärker. Literatur ist vorrangig die Gabe, etwas kunstvoll zu erzählen und dadurch unser Weltbild zu bereichern. Unsere Phantasie ist grenzenlos. Leider auch in jede Richtung. Die menschliche Kreativität zeigt sich auch im Schrecken. Wenn das Grauen unbeschreiblich wird, muss es erneut durch Literatur erfunden werden, um uns zu erreichen, um uns zu mahnen, zu erinnern und abzuschrecken.
Bahram Moradi wurde 1960 in Broujerd, im Iran geboren. Dort hat er als Schauspieler, Dramatiker und Regisseur am Theater gearbeitet. Er wurde damals von der Bühne als politischer Aktivist verhaftet, gefoltert und inhaftiert. Mitte der achtziger Jahre musste er fliehen und lebt seit 1994 als Schriftsteller und Kritiker in Berlin. Sein literarisches Werk umfasst Erzählungen, Romane und Theaterstücke. Sein Schaffen erreicht eine weltweite Leserschaft und eines seiner Werke ist nun auch endlich in der Deutschen Übersetzung erschienen. Es wurde aus dem Persischen von Sarah Rauchfuß übersetzt und ergänzt durch ein lesenswertes Nachwort von Gabriele von Arnim. Nach dieser Lektüre sollten wir uns die Frage gefallen lassen, wie standhaft wir selbst sind? Haben wir den Mut oder sind wir mutlos, wenn es um unsere Werte und Freiheit geht? Wie sicher kann ich meiner selbst sein?
Es ist Juni 1981 und im Iran geht ein Junge spazieren. Er möchte seinen Kopf frei bekommen und gerät in eine Situation, die eskaliert. Ein Jeep steht defekt, blutig und mitten auf der Straße. Die Mechanik des Scheibenwischers kann zwischen klimatischem Niederschlag und Körperflüssigkeit nicht unterscheiden. Das Bild setzt sich fest und lässt das Grauen in eine andere Perspektive rücken. Besonders für den dreizehnjährigen Jungen. Er wendet sich ab und schaut sich die Auslage in einer Buchhandlung an. Vor zwei Jahren siegte die islamische Revolution und das neue Regime beginnt die politische Opposition auszuschalten. Eine Welle von Skrupellosigkeit und Gewalt beherrscht das Land. Die Gewaltbereitschaft endet auch nicht bei Minderjährigen. Peyman Bamshad ist seit diesem Tag verschwunden, er ist das dreizehnjährige Kind, das lediglich an jener Kreuzung stand und sich Bücher anschaute. Er wird angesprochen und inhaftiert. Es ist eine Verwechslung mit dem Bruder und jahrelang, muss er versuchen, sein Selbst zu bewahren, zu stärken und stets zu behaupten. Er taucht ein in eine unwirkliche und unmenschliche Welt, die man selten senkrecht und meist horizontal verlässt. Um das Grauen zu ertragen verflüchtigen sich die jugendlichen Empfindungen und Gedanken in Parallelwelten. Der Schrecken wird unverständlich und nur durch die Lächerlichkeit begreifbar. Es entsteht über Jahre eine eigene Wahrnehmung und Sprache, ein ganz eigener und körperloser Humor, der sich dem Schmerz entwindet. Die Einsamkeit, das Misstrauen und die unterschiedlichen Verlegungen lassen das Empfinden schrumpfen. Die Regeln in Haft sind ganz andere und lassen, nach der Freilassung, keine Realität mehr zu. Nach der Freilassung sucht Peyman die Freiheit und kann diese kaum finden. Die Isolation bleibt bestehen, nun in einer eigenen Reduktion im Keller des Elternhauses. Er verkriecht sich im Keller und verlässt diesen nicht.
Der Erzähler versucht, alles zu begreifen, er versucht, das Erlebte zu erfassen und seine Wahrnehmung wandert aus den Erinnerungen in den Keller und zurück in den Zeiten. Der erwachsene Protagonist und der dreizehnjährige Junge werden eins und versuchen sich jeweils selbst zu definieren.
Ein Roman, der erschrickt, verstört und mit Geschichte, Erinnerungen, Erlebtem und Emotionen spielt. Der brutale Witz taucht auch in Begrifflichkeiten und Namen auf. Diese sind zum Beispiel Niemalsjemals, Zärtling und Yasser-die-Schonfrist-ist-um. Die Intensivität des Erzählens steht bei diesem Werk stets im Vordergrund. Ein Roman, der Wunden zeigt, aufreißt und erzählerisch als Kunst offenlegt. Es ist der Fingerzeig, was passiert, wenn Gesellschaften erkalten und totalitäre Systeme das Sagen erlangen. Was passiert mit der Individualität, wenn Grauen ein Normalzustand wird?
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Lieber Hauke,
Vielen Dank für diese ausführliche Rezension mit den anregenden Fragen.
Herzlich Grüßen aus Berlin