
Der neue Roman von Haruki Murakami verspricht fantastische Literatur und hält sein Versprechen. Ein Roman, der mit dem Bewusstsein, dem Unbewussten, den Träumen und der Realität spielt. Die Phantasie und das Unbewusste sind Gedankenkonstrukte, die unser Handeln, Fühlen und Denken unterbewusst bestimmen. Im Roman sagt die Figur Herr Koyasu: „Bewusstsein ist das Gewahrwerden des eigenen physischen Zustands durch das Gehirn“. So verschlingt uns der Roman durch die Bilder, durch die Gedankenspiele und die Emotionen und baut um uns ein Labyrinth aus Wirklichkeit und Fantastischem. Wir Menschen erdenken und empfinden unsere eigenen Welten und verlieren uns zuweilen in der Fantasie oder werden durch die Realität zu einem Schatten unserer Selbst. Der Schatten ist ein wichtiger Aspekt in diesem Roman. Wer Murakami liest, weiß, in seinen Welten vermischen sich Realitäten und diverse Alternativen und bilden ein Geflecht aus dem ein Ganzes erbaut wird. Doch ist jede Ebene umgeben von Mauern und gerade diese gilt es zu überwinden. Die Mauern im Roman können unterschiedlich sein, sie sind unzerstörbar, nur ein Gedanke oder eine Membran und die Realitäten greifen ineinander. Murakamis Literatur ist somit eine kunstvolle Diffusion.
Eigentlich war „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ eine Erzählung. Murakami konnte diese Erzählung aber niemals ganz verlassen und loslassen. Themen griff er erneut in „Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt“ auf, um nun mit dem vorliegenden Roman endlich das komplexe Werk zu vollenden.
Der Erzähler ist am Anfang des Romans siebzehn Jahre jung und verliebt. Das Mädchen, das er liebt ist ein Jahr jünger und beide verbindet die Liebe zu Geschichten. Behutsam nähern sich beide einander an und die Liebe findet Erwiderung. Doch meint das Mädchen, dies sei nicht ihr wahres Ich. Sie, das eigentliche Bewusstsein, lebe in der Stadt mit der unbestimmten Mauer. Eines Tages bleibt das Mädchen weg und der Namenlose zieht nach Tokio und arbeitet später im Buchhandel. Doch seine Gedanken und Gefühle sind stets bei dem Mädchen und er sucht die mysteriöse Stadt, die ihn auch findet. Denn er fällt in eine Grube und als er sein Bewusstsein erlangt, steht vor ihm der Torwächter der Stadt mit der ungewissen Mauer. Um die Stadt betreten zu können, muss man seinen Schatten ablegen. Da er von dem Mädchen erfahren hatte, dass sie dort in der Bibliothek arbeitet, findet er sie in jenem Zentrum. Er wird ebenfalls als Traumleser tätig und arbeitet täglich mit dem Mädchen zusammen, die ihn aber nicht erkennt. Das Leben in der Stadt ist konturlos und befremdlich. Es ist eine Stadt, die der Phantasie des namenlosen Jungen und des Mädchens entsprungen ist. Auch Einhörner leben und sterben hier. Der Schatten, der außerhalb der Mauer ein tristes Leben fristet und immer mehr zu verschwinden droht, kann den Erzähler überzeugen, die Stadt zu verlassen. Es gelingt auch und der Erzähler und sein Schatten können die Mauer überwinden, doch ist es der Erzähler, der Schatten oder sind es beide, die unter rätselhaften Umständen die Stadt verlassen?
Auf den Erzähler wirkt alles wie ein Traum, doch lassen ihn die Bilder und die Emotionen nie los. Er kündigt und begibt sich in die Präfektur Fukushima und beginnt in einer alten Bibliothek zu arbeiten. Ein Traum hat ihn in diese Region geleitet und als er dort ankommt, findet er Erträumtes wieder. Auch der Ofen aus der Bibliothek in der Stadt mit der ungewissen Mauer befindet sich dort und immer mehr öffnen sich die Weltengrenzen. Erneut ist es auch der Tee und Apfelgeruch, der ihn an den Ort zu binden scheint. Die Menschen, denen er begegnet sind ebenfalls mysteriös, zum Beispiel Herr Koyasu, der vor ihm die Bibliothek geleitet hat und oft erscheint und den Erzähler einarbeitet, aber auch Grenzen überwindende Geschichten erzählt. Der Verlust der Liebe steht dabei im Mittelpunkt. Auch der Verlust des eigenen Schattens, der uns mit dem Leben verbindet. Immer wieder wandern die Gedanken und Gefühle zurück in die Stadt mit der ungewissen Mauer.
Eine traumwandlerische Reise. Das Märchenhafte ist eine Bewusstseinsstudie, die uns beim Lesen immer tiefer in die Vielschichtigkeit der Gedanken- und Gefühlswelten hinabreißt. Durch die Bilder und die zugängliche aber sinnliche Sprache verwurzeln sich die Handlung, die Figuren und die Themen immer mehr im eigenen Selbst. Murakami spielt mit seinen Gedanken und Figuren und bietet oft Wiederholungen an, die aber, wenn sie erfolgen, stets anderes beleuchten und somit einen ganz anderen Schattenwurf erzeugen.
Ein großer Murakami, der durch die beschriebenen Welten unsere Welt bunter, reicher und kontrastvoller werden lässt. Der Roman wurde von Ursula Gräfe aus dem Japanischen übersetzt.
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