Peter Flamm: „Ich?“

Peter Flamm, bürgerlich Erich Mosse, wurde 1891 in Berlin geboren. 1962 war sein psychologischer Debütroman eine Sensation und die Begeisterung gilt auch heute für die Wiederentdeckung. Sebastian Guggolz, der neben seinem eigenen Verlag auch für den Fischer Verlag nach Perlen der Literatur sucht, hat diesen Leseschatz gehoben.

„Ich?“ ist ein Spiel mit der Persönlichkeit. Denn was ist das Ich? Die Persönlichkeit und das Menschliche werden durch Kriege zerstört. Dies gilt für die Menschen, die den Kampf erleben und für jene, die auf die Rückkehr warten. Auch wenn der Krieg vorbei ist, sind das Leid, die Zerstörung und die Vernichtung noch nicht beendet. Das Fremdsein wird im Roman erlebbar. Die eigene Fremdheit, die des Rückkehrers und die der Zurückgebliebenen. Alle sind traumatisiert, erkennen sich nicht wieder und nur der Hund schlägt an. Denn wer ist der, der heimgekehrt ist?

Der Roman besteht aus einem Monolog, einem Geständnis und es sprudelt aus dem Erzähler heraus. Er beichtet seinen Richtern und beginnt mit Negationen. „Nicht ich, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinen Mund. Nicht ich stehe hier, nicht mein Arm, der sich hebt, nicht mein Haar, das weiß geworden, nicht meine Tat, nicht meine Tat.“ Er hat das Schlachtfeld überlebt. Er war Zeuge von Massakern und von abgetrennten und fliegenden Körperteilen. Er ist körperlich ein Ganzes, doch was ist mit seinem Innenleben? Der Krieg ist beendet und er stolpert beim Verlassen der Front über eine Leiche und nimmt sich dessen Papiere an. Seitdem hat er dessen Persönlichkeit angenommen. Aus Wilhelm Bettuch wird Hans Stern, ein Chirurg im bürgerlichen Berlin. Doch fragt er sich jetzt selbst, wer er ist.

Peter Flamm beleuchtet durch das Selbstgespräch alle Facetten der Persönlichkeit, die sich selbst nicht erkennt. Das Ich, das das Ich ablegt und wieder anlegt. Das Leben und das Selbst getrennt durch Glaswände, die unsichtbar und doch da sind. Starke Wände und doch porös. Dieser Roman ist eine Sensation und begeistert durch seine literarische Tiefe. Der Autor emigrierte nach Amerika und liess sich als Psychiater in New York nieder. Sein Wissen und sein Können machen diesen Roman zu einer mitreißenden Wiederentdeckung, die auch heute ihre Faszination nicht einbüßt. Ich möchte von einer Leseverpflichtung sprechen …

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Ein Kommentar

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Eine Antwort zu “Peter Flamm: „Ich?“

  1. Gestehe, dass ich mir nach dem lesen und anhören deiner begeisterten Rezension eine Probe heruntergeladen habe.
    Es entwickelt tatsächlich schon gleich zu Beginn einen unglaublichen Sog.
    Ich werde meinen Bücherschrank damit bereichern. Die Bibliothek hat es leider nicht vorrätig.

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