
Caroline Wahl vertieft sich sehr in ihre Figuren und lässt diese sehr lebendig werden. Ihr Debütroman „22 Bahnen“ begeisterte. Mit ganz viel Hingabe stürzen sich die Figuren in die Lebensfluten und die Autorin in ihre Texte. Das Dramatische erhält durch die Sprache und den melancholischen Humor eine Tiefe und Schönheit. Eine Figur hat Caroline Wahl aus „22 Bahnen“ nicht losgelassen, Ida. Ida explodiert in unseren Köpfen und geht weiter als ihre Schwester Tilda. Beide Romane stehen für sich und funktionieren wohl auch gut ohne einander. Doch ist es dieselbe Welt und Familie.
Ida ist voller Wut. Ein Wutklumpen grummelt oft in ihr, der lediglich etwas kleiner wird, wenn sie es herausbrüllen kann. Auch schwimmen hilft. Sie schwimmt aber nicht wie ihre Schwester genau 22 Bahnen, sondern stürzt sich fast schon gefährlich in die Fluten. Doch vorerst ist sie nicht am Meer. Ihre Mutter ist an einer Überdosis gestorben und Ida zieht einen Schlussstrich. Sie kündigt die Wohnung und zieht los. Eigentlich zu Tilda, die in Hamburg mit Viktor und ihren Kindern lebt. Tilda sorgt sich stets und hat Ida auch ein Busticket organisiert. Das ist lieb gemeint, macht Ida aber auch wieder wütend und sie nimmt einfach einen Zug und strandet auf Rügen. Hier wird ihr ihre Erschöpfung immer deutlicher, besonders wenn sie sich im Meer ausgetobt hat. Vorerst wohnt sie in der Jugendherberge, trifft aber dann auf Knut, der die Kneipe „Robbe“ betreibt. Hier darf sie arbeiten. Sie kapselt sich gänzlich ab, hat es nicht auf die Beerdigung ihrer Mutter geschafft und lässt ihr Handy lange im Flugmodus. Sie weiß, Tilda wird sich Sorgen machen. Ihre Verzweiflung und Wut zeigen sich in ihren wagemutigen Schwimmausflügen. Sie vergisst dabei sich selbst und wird krank. Somit wird Marianne, die Frau von Knut, auf sie aufmerksam und beide nehmen Ida auf. Bei Knut und Marianne wird der Wutklumpen immer kleiner. Sie erlebt hier eine familiäre Welt mit gemeinsamen Frühstücken, Spaziergängen und Spielen. Marianne ist es, die Ida sehr hilft und sie beginnt den Schmerz, die Wut zu akzeptieren und sich somit selbst zu akzeptieren.
Sie lernt auch Leif kennen. Er lebt in Hamburg und macht auch gerade einen Rückzug ins Innenleben. Er ist Musiker, d.h. ein gefragter DJ, der ähnlich versehrt ist wie Ida. Mit ihm wird aber auch alles etwas leichter und eine Liebesgeschichte deutet sich an. Gemeinsam fahren sie nach Hamburg, er in sein bisheriges Leben zurück und sie besucht Tilda. Auf diesem Ausflug erkennt sie die Welten der anderen, die von Tilda und die ihr bisher unbekannte Seite von Leif und erneut scheint ihr das kleine Glück aus den Händen zu rinnen. Ihre Welt wird erneut auf den Kopf gestellt.
Caroline Wahl erzeugt Bedingungen, die ihre Figuren schwach werden lassen, aber dies niemals werden oder sind. Sie trotzen den Windstärken des Lebens und in den widrigen Umständen suchen sie nach der Schönheit. Ida trifft uns sofort ins Herz. Wir leben, leiden und empfinden alles mit. Die beiden Romane erzeugen eine Begeisterung, wenn sie chronologisch, „22 Bahnen“ erst, dann „Windstärke 17“, gelesen werden. Doch ist es keine Bedingung. Ida bohrt sich auch ohne Tildas Vorgeschichte in unsere Emotionen. Caroline Wahl findet einen ganz besonderen Sprachsound und ihre Beschreibungen sind stets wunderbar tröstlich, traurig und unglaublich witzig zugleich. Alles ist in ihren Texten traurig schön und macht einfach Mut, sich in die Fluten des Lebens zu werfen.
Zum Buch in unserem Onlineshop
Weitere Lesetipps von mir und tolle Gäste auf YouTube: Leseschatz-TV