Caroline Wahl: „22 Bahnen“

Ein Debütroman, der begeistert. Caroline Wahl schreibt mit ganz viel Hingabe und das Dramatische erhält durch die Sprache und den melancholischen Humor eine Tiefe und Schönheit, dass man bereit ist jede einzelne Bahn der Protagonistin in einem Rausch mitzuschwimmen.

Die Adresse der Erzählerin zeigt, es handelt sich um Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben. Die Familie wohnt im traurigsten Haus am Ende der Fröhlichstraße. Tilda ist kurz vor dem Ende ihres Mathematikstudiums und durch ihren Fleiß könnte sie bald Karriere machen. Noch lebt sie in der Kleinstadt und kann diese auch nicht verlassen, weil sie sich um ihre jüngere Schwester Ida sorgt. Die Mathematik ist neben dem Schwimmen ihr Zufluchtsort, denn die Mutter ist alkoholkrank und die Väter sind aus dem Leben verschwunden oder niemals aufgetaucht. Tilda kümmert sich somit um ihre Schwester und beobachtet ihr ganzes Umfeld und die Geschehnisse analytisch. Da sie erzählt, ist die Sprache empathisch an Tildas Welt angepasst. Kurze Sätze, die aber in der Gleichung stets aufgehen und eine enorme Reaktion erzeugen können. Dialoge sind dramatisch aufgebaut und wenn es die Sprache zulässt, werden Zahlnennungen gerne als Ziffer geschrieben. Dies verdeutlicht auf kunstvolle Weise die Sicht in Tildas Welt. Die Welt versucht sie sich durch diese Kleinigkeiten schöner und einfacher zu gestalten. Somit erzeugt sie eine analytische Kreativität, wohingegen Ida eine phantastische Kreativität benötigt, um die Realität zu begreifen und zu entkommen. Ida malt ihre Emotionen und es sind dabei viele Bilder entstanden.

Da die väterlichen Unterhaltszahlungen nicht ausreichen und die Mutter keine Hilfe ist, arbeitet Tilda als Kassenkraft im Supermarkt. Auch hierbei macht sie ihre zerlegenden Beobachtungen und Spiele. Freiheit findet Tilda beim Schwimmen, wenn sie ihre abgezählten Bahnen zieht. Hier ist sie fern ihres Alltags und kann vom sorgenfreien Leben träumen. Plötzlich taucht Viktor wieder auf. Auch er leidet, denn seiner russischstämmigen Familie ist etwas Furchtbares zugestoßen. Mit dem verstorbenen Bruder war Tilda gut befreundet. Nun ist Viktor auf einmal wieder da und wirft sie wortwörtlich aus der Bahn.

Tildas Umfeld weiß um die Begebenheiten und somit hat sie Freunde, die sie auffangen. Doch Zeit zum wehleidig sein oder zum Trauern nimmt sie sich nicht, denn sie will für Ida stark sein. Auch hadert sie mit ihrer Zukunft, ihren Plänen und der möglichen Karriere, denn dies würde bedeuten, sie müsste Ida bei der depressiven und alkoholabhängigen Mutter alleine lassen. Die Zustände der Mutter sind ein beständiges Wechselspiel, zwischen Hinwendung, Gewalt und geistiger Abwesenheit.

Der Roman lebt von der Struktur, die die Figur Tilda ihm gibt. Es ist ihre Sprache, ihre Geschichte und ihr Blick auf die Welt. Durch den Witz, die Verletzlichkeit und die Stärke wächst die Charakterisierung von Bahn zu Bahn. Es ist ein Roman, der von verletzten, aber enorm starken Frauen erzählt. Die Verantwortung gegenüber der Familie und dem eigenen Leben stehen bei den Betrachtungen im Mittelpunkt. Sofort wachsen einem Tilda und Ida ans Herz und man wünscht beiden, dass sie ihr Glück finden. Mögen sie endlich das Meer sehen und die Liebe finden. Denn „22 Bahnen“ ist auch ein wunderschöner Liebesroman. Ein taktvoller, zarter, kraftvoller, witzig-melancholischer und wunderbarer Text.

Bilder von der Lesung am 14.06.2023 im Literaturhaus Schleswig-Holstein

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