John Wray: „Unter Wölfen“

John Wray schaut erneut in die Welt der Nebenfiguren. Seine Aktivisten suchen einen Zusammenhalt in einer Gemeinschaft, die am Rand der Gesellschaft ist. Wray schaut in das Provinzielle innerhalb der Großstädte und Regionen und setzt Charaktere frei, die in uns ein Eigenleben entwickeln. Ende der achtziger Jahre in Florida, später L.A. und Bergen suchen junge Menschen, die aus schwierigen Familienverhältnissen stammen, einen Ausstieg aus der Gesellschaft. Sie betreiben eine Flucht, die sie der Realität entkommen lässt. Ihre Welt ist die Musik. Eine Musik, die aufbegehrt, die schreit, wimmert und den Zuhörer zu Boden wälzen kann. Sie feiern den Metal, der gerade die Einflüsse des Hard Rocks verlässt und das Extreme ausweitet. Es dienen dabei der Horror, das Phantastische und das Mystische als Ebene, um den Frust, die Verzweiflung und die Wut zu filtern. Doch ist es auch eine Flucht, eine Weltflucht, um dem Gesellschaftlichen, dem Biederen, dem Routinierten und dem Konsum entkommen zu können. Der Mensch erscheint in dieser Kunstform tierischer als jedes Tier, um sich selbst zu erkennen und einzudämmen. Dabei entsteht eine Freiheit, die nicht philosophisch, sondern durch Klang erzeugt das Unbewusste anregt.

Es sind drei Freunde, Kip Norvald, Leslie Vogeler und Kira Carson. Kip wohnt bei seiner Großmutter und hat psychische Probleme. Er gerät ab und zu in einen weißen Raum, der ihn vergessen lässt, während er äußerlich ausrastet. Leslie wohnt als Schwarzer bei seinen Adoptiveltern und ist oft rassistischer Gewalt ausgesetzt. Beide freunden sich an und durch Leslie lernt Kip den Death Metal kennen. Das Nihilistische und die hörbare Resignation verstärken ihren Eindruck der gesellschaftlichen Missstände. In Venice spielen viele ihrer Bands in kleinen Clubs und sie saugen alles auf. Dabei lernen sie Kira kennen, die mit ihrem brutalen Vater in einem Trailer lebt. Ihre Freundschaft, Liebe und Hingabe zur Musik lassen sie zusammenwachsen. Sie sind Ausgegrenzte, die ihre Verletzungen durch Härte kaschieren wollen. Dabei suchen sie die Wahrheit und Ehrlichkeit. Sie wollen die Dinge sehen und erleben, wie sie sind. Sie betreiben Realitätsflucht, wollen dabei aber nicht so tun, als wäre die Welt eine bessere, als sie ist. Ihr Soundtrack ihres Weges zum Erwachsenwerden ist ein verzerrter Klangraum, der stets das Extreme auslotet. Innerhalb der textlichen Ausrichtung der Musik gibt es eine Veränderung. Die Bands werden auch erwachsen und als zum Beispiel Metallica nach allgemeingültiger Gerechtigkeit fragen, beginnen auch Kip, Kira und Leslie die Dinge mehr zu hinterfragen. Sie verlassen die Sümpfe ihrer Kindheit, um im Kunstlicht von L.A. ihre Freiheit zu finden. Auch hier zelebrieren sie ihre Musiker und Bands in legendären Clubs. Ihre Liebe zueinander bricht und sie erkennen, dass sie sich zwar brauchen, aber auch gegenseitig herunterziehen. Besonders Kip ahnt, dass seine Liebe zu Kira unerfüllt bleiben könnte. Ihr Risiko ist immer die Dunkelheit, die sie droht aufzusaugen. Im Prolog verschwindet Kira aus dem Blickfeld. Was ist passiert und was erfährt Kip erst Jahre später?

Das vermeintliche Paradies in Florida als Kulisse einer Jugend, die im Filmlicht um Hollywood und in der mystischen Winterlandschaft Norwegens ihre Wege finden muss. Realitätsverlust aus Sorgen und Wut. Ein enorm lauter Aufschrei aus den Randbezirken der Gesellschaft als Kunstform hat nun auch die Literatur erreicht. Ein großer amerikanischer Roman über Liebe, Freundschaft und Kunst. Die Kunst als Metapher der eigenen Zerstörung, um Freiheit zu erlangen, kann nur als Bild funktionieren. John Wray schreibt mit viel Empathie zu seinen Figuren und erzeugt eine Stimmung, die uns wie ein Metal-Konzert nicht loslässt. Wenn das Saallicht ausgegangen ist, die Akkorde genossen wurden und das Licht erneut angeht, verbleibt ein Beben und Wummern. Ein Thriller und Entwicklungsroman. Man muß kein Metalhead sein, um sich in diesen Zeilen zu verlieren und sich in die Figuren zu verlieben. Antihelden in einer Welt voller Zerwürfnisse. John Wray beweist erneut sein Können als großartiger Erzähler. Sein Wissen um die Musikgeschichte und deren Akteure kennzeichnet ihn selbst als Fan. Übersetzt wurde der Roman aus dem Englischen von Bernhard Robben.

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