Domenico Müllensiefen: „Schnall dich an, es geht los“

Der Titel kann wörtlich genommen werden, denn das Buch nimmt einen gänzlich gefangen. Die Charaktere und der authentische Sprachklang saugen uns mitten hinein ins Nichts, in die Tristesse, in den Schmerz, die Hoffnungslosigkeit, die Hoffnung und die Liebe. Es geht um nichts weniger als das ganze Leben. Ein epischer Roman, der literarisch alles bis zum Ende durchhält. Den Spannungsbogen durch die klug komponierten Erzählebenen und die Sprache, die sich dem Umfeld anpasst. Nichts wirkt dabei gekünstelt und gerade dadurch werden die Charaktere, die keinen großen Aufbau erhalten, sehr  groß und lebendig. Sie erleben ihren Alltag und schauen auf das Vergangene mit einem Hoffnungsschimmer auf das Kommende. Die Dialoge wirken den echten Leben entsprungen und gerade durch das Vokabular und die Weltsicht charakterisieren sich die Figuren.

Die Romanlandschaft besteht aus einer Kleinstadtkulisse mit maroden Häusern, einfachen und leerstehenden Läden und dem Imbiss. Der fiktive Ort Jeetzenbeck ist in Sachsen-Anhalt in der Nähe von Magdeburg. Nach der Wende hat sich vieles verändert und die Menschen wirken vergessen. Viele meinen, dass die guten Zeiten vorbei sind, sofern diese überhaupt stattgefunden haben. Früher begann hier die Freiheit. Es war eine wichtige Station in die weite Welt, nach Amerika. Diese Verbindung gibt es nicht mehr und auch die noch bestehende Zugverbindung in die Stadt soll eingestellt werden. Marcel lebt hier seit seiner Geburt und arbeitet in einer Dönerbude, die so nicht genannt werden soll. Der Imbiss mit Drehspieß steht am Bahnhof und es sind meist dieselben Gäste anzutreffen. Freunde aus alten Tagen und deren Kinder, die nach der Schule Pommes schnorren. Marcels Emotionen und Gedanken sind mit seiner Vergangenheit verwurzelt. Er träumt von bessren Tagen. Seine Familie war nicht heil, sie funktionierte eigentlich nur. Durch die alltäglichen Probleme waren die Eltern nicht fokussiert. Marcel war zum Beispiel das Kind ohne Schultüte auf der Einschulungsfeier, weil seine Eltern diese im liegengebliebenen Auto vergessen hatten. An diesem Tag wird die Mutter seiner großen Liebe, Steffi, seine Klassenlehrerin. Eine Liebe, die zart beginnt, mit Händchenhalten und dann in späteren Jahren abrupt beendet wurde. Steffi ist weggegangen. Viele Jahre später steht Marcel verträumt in seinem Imbiss. Viel Bier und der Fußball sind sein Lebensanker. Er vermisst seine Schwester, die mit ihrem Wagen gegen eine Mauer gefahren ist. Warum ist sie gestorben und warum ist Steffi weg?

Bei einem Stadionspiel seines Vereins, der 1. FC Magdeburg, das von Marcel und seinen Freunde bierverschwommen genossen wird, meint er plötzlich Steffi wieder gesehen zu haben. Dann, auf dem Friedhof, am Grab seiner Schwester, steht sie tatsächlich vor ihm. Mit ihren roten Haaren, der traurigen Wut und dem verzaubernden Lächeln.

Erzählt wird in zwei Zeitebenen, die sich abwechseln. Die Handlung baut den Zerfall des Ortes auf und platziert in diese ihre Figuren. Es ist eine Männerperspektive mit dem Wunsch, die komplexe Welt einfach verstehen zu können. Das Buch ist enorm lebendig und detailverliebt. Der vergessene Osten als Schauplatz mit vielen Lebensfragen. Das Verschwinden von Steffi, die Ausweglosigkeit, die für die Schwester mit dem Tod endete und doch die Hoffnung, die am Biertresen heruntergespült wird. Die flotten und schnoddrigen Dialoge stehen einer emotionalen Feinfühligkeit gegenüber und die Handlung verwebt sich immer dichter und wir verfangen uns gerne darin und kommen bis zum Ende nicht mehr los.

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Ein Kommentar

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Eine Antwort zu “Domenico Müllensiefen: „Schnall dich an, es geht los“

  1. Das habe ich noch auf meiner Leseliste. Klingt ja deiner Beschreibung nach sehr lesenswert

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