
Jackie Thomae erweitert mit ihrem dritten Roman den Kosmos um ihr Debüt „Momente der Klarheit“. Denn erneut sind es Menschen, die sich vom Leben nicht angenommen empfinden und Momente erleben, die sie reflektieren lassen. Die agierenden Figuren sind Frauen, die durch ihren Kinderwunsch getrieben werden. Es sind Frauen in gut gestellten Lebensbedingungen, die ihre persönliche Bestimmung mit Mutterglück gleichsetzen. Dabei stehen sie dann auch vor der Entscheidung, ob sie ihrer Familienplanung überhaupt nachkommen können und ob das Glück wirklich nur als Mutter greifbar wird.
Jackie Thomae erzählt chronologisch und episodenhaft. Sie verwebt sehr unterhaltsam alle wichtigen Aspekte zu diesen Themen. Die gesellschaftliche Einsamkeit und die beruflichen Herausforderungen, die dem Mutterglück im Wege stehen könnten. Es sind verschiedene Perspektiven. Die Hauptfiguren leben in Berlin und sind in der Politik und in der Medienwelt aktiv. Sie treffen einander bei einem Interview und dabei wird auch die Kinderfrage gestellt. Eine Frage, die ausschließlich Frauen gestellt wird. Das familiäre Umfeld ist in der gesellschaftlichen Akzeptanz immer noch bedeutend für das individuelle Profil. Durch die Frage wird eine Wunde ersichtlich, die schon lange in den hier beschriebenen Frauen aufgerissen ist.
Marie-Claire, die sich meist nur MC nennt und als Moderatorin tätig ist, bekommt von ihrer Frauenärztin gesagt, sie hätte ja ein Vierteljahrhundert Zeit gehabt, den richtigen Partner zu finden und Kinder zu bekommen. Körperlich steht dem Kinderwunsch noch nichts im Wege. Aber hat sie für ihren Lebenswunsch die Deadline bald überschritten? Anahita ist Senatorin und hat weitere größere politische Ziele. In ihre politische Kompetenz fällt auch die Familie. Sie sehnt sich selbst nach Kindern, fragt sich aber, ob die Mutterschaft tatsächlich die Kernkompetenz der Frau sein muss.
Die Kinderfrage wird aus vielen Blickwinkeln behandelt. Auch die der Abtreibung. Jackie Thomae baut den Roman klug und unterhaltsam auf. Dabei ist der Text besonnen und bewegend. Die medizinische Sicht, die gesellschaftliche und sogar eine spirituelle Sichtweise tauchen auf. Denn eine fragwürdige Meisterin leitet einen Kinderwunsch-Retreat am Mittelmeer. Dorthin verschlägt es die Radio-Moderatorin, weil sie mit der Leiterin befreundet ist. Aber diese hat ebenfalls eine Lebenslüge und verwandelt ihre Selbstreflektion in eine Therapie für Kinderlose. Dabei sind dann nicht nur Frauen, sondern auch Männer, die diese Leere empfinden.
Ist das weibliche Glück mit der Fortpflanzung verbunden? Was ist das menschliche Glück überhaupt? Der Werdegang von Frauen in vielen Bereichen ist ganz anders als der männliche Weg. Dabei werden viele Aspekte übersehen, falsch verstanden oder einfach vorausgesetzt. Der Roman verwandelt sich leicht im zweiten Teil. Denn eine neuartige Pille ist erschienen, die die Menopause verhindert. Wird das Mutterglück nun durch Kapitalismus gesteuert? Was bedeuten die Begriffe Mutter, Glück und Identität?
Jackie Thomae schreibt voller Empathie und Wissen und verwandelt dies in eine gute Geschichte. Die Erzählstränge verlaufen als Tangente oder als Sekante und die Haupt- und Nebenfiguren erhalten mit ihren Perspektiven entsprechenden Raum. Hier werden schwierige Themen unterhaltsam verpackt und durch die unterschiedlichen Figuren leicht verständlich eingeführt. Der Roman funktioniert wie eine gute Serie, die durch die Charaktere die Zuschauer an sich bindet.
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