Ryū Murakami: „Coin Locker Babys”

Es gibt noch mehr Murakami, zumindest einen weiteren, der neben Haruki Murakami in der literarischen Welt für Aufsehen sorgt. Es ist Ryū Murakami. Seine Romane sind voller Kontraste, werden klassisch, fast gradlinig erzählt und überraschen stets. Die Handlung hat eine begeisternde Zielführung und vieles wird, wie bei beiden Murakamis üblich, in Bildern angedeutet. Anfänglich ist das ganze Grauen zwischen den Zeilen versteckt und das ist es, was wohl den hauptsächlichen Reiz der Werke ausmacht. Das bekannteste Werk von Ryū Murakami ist wohl „Das Casting“, ein ganz leiser Spannungsroman, der den Horror in den letzten Seiten, wie ein Crescendo, freilässt.

„Coin Locker Babys“ ist in der deutschen Übersetzung von Ursula Gräfe schon länger verfügbar, aber der Roman ist nun auch frisch als Taschenbuch erschienen. „Coin Locker Babys“ ist ein Begriff, der häufig in Japan oder China für ausgesetzte Neugeborene verwendet wird. Der Drang, sich der unerwünschten Babys zu entledigen, wird dabei einfach durch die Ablage in Schließfächern getätigt. Es ist nahezu ausgeschlossen, dass die Neugeborenen dies überleben.

Ein Kind hat dies überlebt. Es schrie wegen der enormen Hitze und wurde gehört und aus dem Münzschließfach befreit. Somit erlebt das Kind eine erneute Geburt. Es ist der 18. Juli 1972. Er kommt in eine Säuglingsstation und erhält den Namen Kikuyuki Sekiguchi. Sekiguchi war der Name, den die Mutter auf den Karton geschrieben hatte, mit dem sie den Jungen in das Fach gesteckt hat. Kikuyuki ergab sich aus einer Namensliste für Findelkinder. Später bleibt es meist bei Kiku. In einem Waisenhaus trifft er auf den gleichalten Hashio Mizouchi, der ebenfalls ein Münzschließfach überlebt hat. Übler Geruch war seine damalige Rettung. Kiku und Hashi sind traumatisiert und auch als Kinder geht ihnen das Bild des Schließfaches nicht aus dem Kopf und begleitet sie in der spielerischen Phantasie. Sie wachsen im Waisenhaus und bei Pflegeeltern auf. Später macht einer seinen Weg als Sportler und der andere wird Rockstar. Sie leben in einer Zwischenwelt, in einem anarchischen Ortsteil von Tokio, der durch  Kriminalität und Prostitution geprägt ist. Hashi sucht seine Sexualität und beide die menschliche Nähe und Liebe. Kiku möchte auch Rache und bekommt dabei Unterstützung durch seine Freundin, die vor ihrer Familie geflohen ist, aber ein Krokodil mitbringt. Die Rachepläne gehen aber über die Suche nach der Mutter hinaus. Ein rätselhaftes Gift taucht auf und auch Hashis Karriere endet. Ein surrealer Trip beginnt in einem Japan der nahen Zukunft. Ein Coming-of-Age-Roman über Identität, Selbstwertgefühl, Rache und Macht. Die Resignation, Verzweiflung und Machtlosigkeit werden mit jeder weiteren gelesenen Zeile stärker erfahrbar. Innerhalb der modernen Machtzentren der Städte regen sich hier die niederen Instinkte. Die Entwicklung und die Vernichtung spitzen sich gehörig zu und die Protagonisten und die Handlung spielen mit unseren Emotionen und dem Verstand.

Wer Murakami mag, wird auch Murakami lieben. Die Wandelbarkeit und die Wahrnehmung unserer Welt verändern sich durch deren Bücher. 

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