
In der Literatur von Pippa Goldschmidt ist immer alles miteinander verbunden. Was wir sehen und lesen ist irgendwie mit dem verbunden, was da ist oder Geschichte war. Diese Verbindungen sind komplex und weben ein Netz, das sich immer weiter ausdehnt. Wie der Kosmos, der sich auch nicht durch Raum und Zeit begrenzen lässt. Pippa Goldschmidt ist promovierte Astrophysikerin und arbeitete mehrere Jahre als Astronomin am Imperial College, anschließend im öffentlichen Dienst, u.a. in der Weltraumbehörde. Jetzt hat sie zur Literatur gefunden. Denn jede Gleichung ist lediglich ein Versuch, das Universum, die Welt oder das Leben annähernd verständlicher zu machen. Das hat die Literatur mit der Naturwissenschaft gemeinsam. Mit „Weiter als der Himmel“ und „Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen“ nahm uns die Autorin bis zu den Sternen mit. Doch ist der Blick in den Himmel stets der Blick zu uns. „Deutschstunden“ ist ein persönliches Werk, eine eigene Reise in die Vergangenheit ihrer Familie und ist ein erzählendes Sachbuch. Diese Rückkehr hat sie in ihrer Muttersprache geschrieben und ihre Verlegerin Zoë Beck hat es übersetzt.
Pippa Goldschmidt wuchs in London auf und lebt heute als Autorin in Berlin. Sie lebt jetzt in dem Land, aus dem ihr Großvater fliehen musste. Diese gegensätzliche Reise enthebt sich der Zeit und verbindet diese durch die jeweiligen Ereignisse. Ihr jüdischer Großvater ist 1936 vor den Nazis nach England geflohen. Hier wurde Pippa Goldschmidt geboren. Sie hat viel Zeit in Deutschland verbracht und denkt über einen Umzug nach. Sie beantragt nach dem Brexit die deutsche Staatsbürgerschaft. Ernst, ihrem Großvater, wurde die Staatsbürgerschaft entzogen. Das deutsche Grundgesetz garantiert den Nachfahren, als eine der Wiedergutmachung, ihre Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen. Da Pippa sich nun auf ihren Großvater beruft, fragt sie sich, wer er war. Denn sie weiß kaum etwas über ihn, lediglich dass er im Ersten Weltkrieg für und im Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland gekämpft hatte.
Die Reise und die Ankunft in Deutschland nutzt Pippa, um in die Geschichte einzutauchen. Sie nimmt Deutschstunden und macht reale und gedankliche Reisen in Raum und Zeit. Die Sprache vermengt sich mit der Geschichte. Die Astrophysikerin belichtet ihre Erlebnisse mit der Biographie ihrer Familie und der Geschichte der Juden. Es wird somit deutsche und europäische Geschichte, die durch die Weltkriege, den Brexit, die Pandemie geprägt wird. Dabei bewahrt sich die Autorin ihren Humor. Neugierig und reflektiert schaut sie sich Dokumente und Geschehnisse an und verwebt alles mit Empathie. Es wird durch ihre Sprache und ihrer Weltsicht sehr persönlich. Ihre Weltsicht ist die einer Sternenforscherin, die den Blick auf das große Ganze wirft. Der Blick zurück, von den Himmelskörpern zu uns, kann nur als eine Einheit begriffen werden. Somit wird auch zum Beispiel die Relativitätstheorie ganz neu oder doch wie üblich eingebunden.
Diese Reise ist eine Rückkehr und eine Rekonstruktion, die uns bestürzt, unterhält, staunen und zuweilen auch schmunzeln lässt. Die Liebe zur Naturwissenschaft und Literatur ist in jedem Kapitel spürbar. Pippa Goldschmidt versucht, die Menschlichkeit zu bewahren und mit diesem Buch aufzuzeigen. Eine Menschlichkeit, die zuweilen verloren ging oder geht, aber niemals verschwinden wird. Es ist ein Text, der sich ausdehnt und gleich dem Kosmos sich durch andere Materie, andere Ereignisse verformt, einverleiben lässt oder die Flugbahn, d.h. die Perspektiven verändert. Pippa Goldschmidt hat ihre Sprache gefunden und kann tolle Geschichten um ihre politische, wissenschaftliche und menschliche Weltsicht herum schreiben. Sie beweist mit jedem ihrer Texte, wie wichtig es sein kann, die Welt, wenn nicht sogar den ganzen Weltraum, zu ordnen.
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