
Ein Debütroman, der das Spiel zwischen Landschaft, Land, Mensch, Kultur und Politik auslotet. An dem Beispiel der eigenen und befreundeten Familien beschreibt Yasmina Liassine die individuellen, persönlichen und gesellschaftlichen Spannungen. 1962 erkämpft sich Algerien die Unabhängigkeit. Die Menschen werden von einer Aufbruchstimmung erfasst und hoffen auf eine bessere Zukunft. Doch dieser Wunsch nach Gerechtigkeit und Freiheit schwindet fast so schnell, wie er aufkam. Somit erklären sich der Begriff und der Titel „Utopia Algeria“.
Das Betrachten des verschlungenen Lebens und die Suche nach Sprache, Zugehörigkeit und Identität beginnt mit dem Finden eines Labyrinths. Dies ist wie ein Mosaik aufgebaut und genau diese Vielschichtigkeit fängt die Autorin ein. Der Roman wirkt am Anfang nüchtern, leicht distanziert, aber dies nimmt uns dadurch ganz bestimmt mit und stellt uns neben die Beobachterin und der Raum weitet sich. Als würden wir selbst vor einem Bild stehen und erst oberflächig dieses aufnehmen, um dann die Details zu einer ganzen Empfindung zusammenfassen.
Als Anfang der 1960er Jahre Algerien sich nach der französischen Kolonialherrschaft freikämpfte, waren auch die Eltern der Erzählerin betroffen. Die Tochter, die Autorin, hat nie die arabische Sprache erlernt. Ihre Mutter ist Französin und der Vater Algerier. Die Sprache und die Zugehörigkeit verursachen erneut Bedenken und Ängste. Die neuen Strömungen dekretierten, wer sich algerisch nennen darf. Menschen, die einen anderen Glauben hatten, wer die arabische Sprache nicht sprach und wer nicht mindestens zwei muslimische Vorfahren nachweisen konnte, wurde gedemütigt und bekam Probleme. Die als „Pieds-noirs“ bezeichneten französischen Besatzer werden Vertriebene und Mischehen werden verunglimpft. Die Autorin verlebte ihre Jugend dort und ging als junge Frau nach Frankreich. Sie blieb nach ihrem Mathematikstudium in Paris. Als Erwachsene kehrt sie als Reisende zurück. Als sie auf einer Durchreise nach Algier kommt, möchte sie ein Kirchenlabyrinth besichtigen. Das Labyrinth befindet sich innerhalb einer Kathedrale, die sie aber eher an ein toxisches Gebäude erinnert. Diese Zerrissenheit lässt sie rekapitulieren. Sie stößt dabei auf Schönheit und Schrecken. Ihr Weg gleicht dem Straucheln durch ein Labyrinth. Sie erinnert das Land ihrer Kindheit mit dem Duft nach Früchten, saftigem Gras und wie die Menschen verändert wurden. Sie tastet sich nach „Utopia Algeria“ und betrachtet die Veränderungen des Landes und jene anfängliche Freiheit, die vielerorts immer noch eine Utopie ist. Die am Anfang des Buches wirkende Distanz ist nötig, um das Feinfühlige des Textes zu erspüren. Denn immer tiefer taucht der Roman in Ereignisse ein, die auch unsere aller gegenwärtigen und globalen Fragen streifen.
Mit viel Empathie für die Menschen, die Kulturen und die jeweiligen Geschichten baut Yasmina Liassine ein Mosaik zusammen, das Landschaften, Natur, Schicksale und somit die Vielfältigkeit miteinbezieht. Aus dem Französischen wurde der Roman von Katharina Triebner-Cabald übersetzt.
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