
Es gibt sie, jene Verlage, die nicht nach den kommenden Bestsellern Ausschau halten, sondern nach Perlen der Weltliteratur, die uns die Welt verständlicher machen. Dabei werden Werke verlegt, die uns durch ihr Wissen und die erzeugte Empathie Themen nachempfinden lassen, die uns durch die Lektüre wachsen lassen und die Gegenwart durch die Geschichte, die Fiktion, greifbarer werden lässt. „Vierzig Mädchen“ von Maren Ernst erweitert bewusst oder unbewusst unseren Horizont, den bereits Oliver Hösli mit seinem Roman „Mit Aprikosen“ geöffnet hat. Beide Romane spielen in Kirgistan. Unser Leben verändert sich beständig. Der Fortschritt macht auch in Kirgistan nicht halt. Das Paradiesische weicht der Technologie und die Natur und die Gesellschaften passen sich immerwährend an.
Es ist ein Roman über persönlich wirkende Einblicke in die jüngere kirgisische Geschichte. Es ist ein Spiel mit unterschiedlichen Weltsichten und Kulturen. Es geht um Menschlichkeit und stellt dabei starke Frauen in den Mittelpunkt. Der Titel geht auf die Legende zurück, dass die kirgisischen Frauen besondere Fähigkeiten haben. Es sind mutige Kämpferinnen, die Rivalitäten zu schlichten verstehen. Dabei wird ein Daseinsplan beschrieben, der stets durch Scheitern und Wiederauferstehung geprägt wird. Kirgistan heißt aus dem Kirgisischen übersetzt: Vierzig-Mädchen-Land. Der Debütroman von Maren Ernst lässt diese starken Frauen lebendig werden und knüpft literarisch ein Kulturen und Zeiten überspannendes Band.
Marie lebt in Deutschland und fühlt sich von Land und Kultur Kirgistans angezogen. Trotz Arbeit und Studium in Norddeutschland, bleibt sie mit Kirgistan stets verbunden. Während eines Aufenthalts in Kirgistan besucht sie ein Event. Eine Show, fast schon ein gesellschaftlicher Zirkus, lässt sie auf Pia treffen. Eine fast schon drängende Einladung, eines der Heime zu besuchen, verändert alles. Marie, die durch Pia eine neue Erfahrung macht, findet innerhalb einer Gruppe von Frauen eine neue und wichtige Lebensaufgabe. In dem Heim beobachtet Marie Kinder, die wie vergessene Objekte ausharren. Heimkinder sind hier nicht zwingend Waisen. Es sind Sozial- beziehungsweise Systemwaisen. Die Arbeit mit den Kindern lässt etwas Inneres bei den Betreuern und Kindern aufbrechen. Zuwendung finden in diesem Roman alle, denn es werden unterschiedliche Schicksale fokussiert. Kirgisische Lebensgeschichten, die nun mehr oder weniger den Fortgang der Handlung prägen. Somit öffnet die Lektüre eine Vielschichtigkeit und bedient sich einer poetischen Sprache. Es entsteht ein Gedanken- und Gefühlsraum, der nicht alles aussprechen muss, um durch die Reduktion etwas Stilles und Menschliches zum Erklingen zu bringen.
Ein Buch, das uns über uns staunen lässt. Über unsere positive Kraft, Hinwendung, aber auch über unsere systematischen Schattenwürfe. Wir können dankbar sein, dass es solche Verlage gibt, die mit Herzblut und Hingabe solche wichtigen Werke verlegen, die aus ihrer Nische gerne weiter heraus strahlen dürften und sollten.
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