
Dieser Roman kommt wie eine literarische Skizze daher. Es sind zuweilen kurze Sätze, die den Eindruck einer Notiz, eines Tagebuches erwecken. Denn auch die Kapitel geben die Tages- und Jahresangaben an. Das Buch handelt vom Finden, Suchen, Ankommen und Akzeptieren. Die Handlung spielt in Kirgistan am Hochgebirgssee Issyk-Kul. Es ist eine wunderschöne, ländliche Gegend, die von der Aprikose geprägt wird. Diese Frucht wächst hier überall und verspricht Lebensunterhalt und eine süße Nahrung. Als frisch gepflückte Frucht vom Baum, als Dörrobst, als Aufstrich oder als Tee. Diese Landschaft hat es dem Protagonisten angetan. Hier blüht er auf und verliebt sich in eine Studentin. Doch ist der Roman kein verklärter Liebesroman, sondern durch seine ungeschliffene Verknappung entfaltet sich eine größere Entwicklung, die sich mit der Natur, dem Fortschritt und der persönlichen Identität beschäftigt.
Auch die Geschichte zur Entstehung des Buches ist keine typische. Der Verleger, Stefan Monhardt, bekam das Manuskript und ein Anschreiben von Oliver Hösli. Alles war ungekünstelt, roh und erzählte schlicht vom Leben an sich. Es war, so schrieb der Verleger, nichts auf interessant gemacht und genau das war das verlockende am Werk. Das Manuskript wurde nicht totlektoriert, sondern es blieb in seiner lyrischen, rohen und verknappten Art bestehen. Der Text wirkt wie ein behauener Stein, der lediglich auf den ersten Blick nur die wichtigsten Erkennungsmerkmale des Kunstwerks an der Oberfläche offenbart. So sind es Einwortsätze, neben poetischen Formulierungen die der Handlung Struktur verleihen. Mal ganz einfach, fast naiv, dann wieder sinnlich und philosophisch.
Willi, ein Ethnologe, ist Ende zwanzig und reist nach Kirgistan. Hier begegnet er Aisuluu und beide verlieben sich und genießen das Leben. Hier, tausende Kilometer von seiner Heimat, der Schweiz, entfernt, entflammt er für diese Welt. Alles wird Metapher und er versinkt in der verlockenden Süße des Lebens mit romantischen Sonnenuntergängen am See. Er plant dort eine Zukunft und übersieht dabei den Alltag von Aisuluu, die als starke Frau weiß, was sie will. Der Versuch einer gemeinsamen Zukunft scheint an einer Entscheidung von Aisuluu zu scheitern. Ein Entschluss der Willi sehr schockiert. Er kehrt in die Schweiz zurück und erfährt dort von seiner Mutter die Geschichte seiner Herkunft und seine Sicht auf das Leben wird sich erneut verändern.
Die Welt verändert sich beständig. Der Fortschritt macht auch vorm Hochgebirge von Kirgistan nicht halt. Das Paradiesische weicht der Technologie und die Natur passt sich erneut an. Auch die Charaktere werden aus ihrem gedanklichen Paradies vertrieben. Der Roman wird aus der Perspektive von Willi erzählt. Doch kommt auch Aisuluu zu Wort, die Marginalien schreibt, d.h. Ergänzungen zur sonst einseitigen Perspektive macht. Gleich am Anfang wird angedeutet, dass Willis Geburt Fragen aufwirft, die vertraglich verschwiegen werden sollten. Dies ist einer der Spannungsbögen, die gesetzt werden.
Ein un- und außergewöhnliches Buch. Es ist eine besondere Literatur, die eine ferne Region nahbar und erlebbar macht und das Leben in den Mittelpunkt stellt. Das Einfache steht hier unverpackt neben der kunstvollen Schönheit. Ein Werk, das die persönlichen Augen etwas mehr der Welt gegenüber öffnet.
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