
Ein Portrait ist eine künstlerische Darstellung eines Menschen. Es gibt sehr berühmte Gemälde, die bis heute Rätsel aufgeben. Wer ist der Dargestellte, ist es eine Frau oder ein Mann? Wie weit hat sich der Künstler in dem Bild selbst verewigt? Jürgen Bauer hat ein literarisches Portrait mit Worten gemalt, in dem drei verschiedene Menschen, eine Mutter, ein Liebhaber und eine Ehefrau, jeweils das Portrait eines Mannes entwerfen.
Dieser Mann ist Georg, der im ersten Teil von seiner Mutter angesprochen wird und sie ihm ihre Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend mitteilt. Georgs Mutter, Mariedl, beginnt vor der Zeit seiner Geburt. Sie hatte stets ein einfaches und entbehrungsreiches Leben und war eine hart arbeitende Landwirtin. Als sie von Georgs Vater ganz pragmatisch gefragt wird, ob sie ihn heiraten wolle, sagt sie zu, wechselt den Hof und wird Mutter. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs wächst Georg auf dem Hof auf, den Mariedl alleine bewirtschaftet. Da ihr Mann mutig gegen das Naziregime gesprochen hat, musste er fliehen und ist seitdem verschwunden. Georg hat einen Bruder, der sich besser mit der Landwirtschaft arrangiert hat. Ein Onkel, der als Industrieller ein sorgenloseres Leben führen kann, unterstützt Mariedl und die Kinder, wo er kann. Georg, der bisher sehr introvertiert und still war, erhält die Möglichkeit zur Schule und sogar später aufs Gymnasium zu gehen und erwacht aus seiner inneren Stille. Zum Leidwesen seiner Mutter wird aus ihm kein Landwirt, sondern er studiert in Wien und macht später Karriere. Viele Jahre später kommt es zu den ersten Besuchen von Georg, der mal mit seiner Frau oder mit einem einige Jahre jüngeren Mann anreist.
Dieser jüngere Mann ist Gabriel, der auch dem Landleben entkommen möchte und in Wien seine Freiheit sucht. Er reist in den siebziger Jahren gänzlich naiv in die Großstadt und will Abenteuer, schnellen und schmutzigen Sex erleben. Wortwörtlich wird er von Georg auf der Straße aufgelesen und aufgenommen. Es ist keine wahre Zuwendung aus Liebe, sondern der Reiz aneinander und das Begehren, das sie zusammenführt. Georg bekämpft als angesehener Mann der Gesellschaft seitdem innere und äußere Konflikte. Das Leben als Homosexueller in dieser Zeit ist immer noch geprägt von Angst, Unterdrückung und Missachtung und gerade Gabriel rebelliert dagegen und wird immer lauter. Georg hadert mit dem Politischen und seinem Wunsch nach Privatem.
Durch die Leidenschaft zur Oper lernt Georg Sara kennen. Sie hatte auch keine schwerelose Kindheit und entschließt sich, Sängerin zu werden. Sie kommt ebenfalls nach Wien und hier treffen sich die Wege. Sie hat als Sängerin und besonders als Opernsängerin keine Erfolge. Sie heiratet Georg, da sie in ihm einen Mann sieht, den sie nach ihren Vorstellungen formen und lenken kann.
Es sind somit drei Geschichten, drei Sichtweisen, in deren Zentrum Georg steht. Es sind seine Mutter, die in ihm den versnobten, feinen Pinkel sieht, der sich für etwas Besseres hält. Sein Liebhaber, der krank wird und seine Ehefrau, die mehr den Schein wahrt und die Macht innerhalb der Beziehung haben möchte.
Georg als Mittelpunkt, als die Figur, um die sich alles dreht und den alle mit ihren Erzählungen ansprechen. Warum sie dies machen, erschließt sich erst am Ende. Wer ist Georg? Zeichnen die Mutter, der Liebhaber und die Ehefrau ein wahres Portrait von ihm? Sind es letztendlich doch nur sie selbst, die von sich erzählen?
Vieles wird anhand der Charaktere und deren Erzählungen thematisiert. Die Betrachtungen und Porträts, die wir von einander unbewusst oder bewusst erstellen, malen das Bild unseres Umfeldes. Welches Bild macht sich jeder vom anderen? Was bleibt im Verborgenen, wird verdrängt oder eventuell übersehen? Was erkennt man im anderen Menschen und was sieht man von einem selbst in dem Betrachteten?
Jürgen Bauer haucht seinen Figuren sehr viel Leben ein und jeder Bericht hat einen eigenen Erzählton. Die Projektionen werden immer farbiger und das Portrait des ganzen Romans reift im Betrachter, d.h. im Leser. Wohl der bisher stärkste Roman von Jürgen Bauer, dessen Umschlag ein von ihm selbstgemaltes Ölbild zeigt.
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