Arezu Weitholz: „Beinahe Alaska“

Wie schön es sein kann, wenn man erkennt, dass es manchmal klug ist, sich von der Suche nach dem Perfekten im Leben zu verabschieden. »Beinahe Alaska« erzählt von einer Reise, die einen anderen Verlauf als geplant nimmt. Ein Abweichen, d.h. eine Umkehr von der eigentlichen Passage zeigt dadurch den Reisenden andere Möglichkeiten. Das beinahe Ankommen kann eine Bereicherung im Leben sein.

Der Roman beginnt mit der Aufzählung, was eventuell kommen könnte. Dieses vorangestellte „Es wird“ endet mit der Erkenntnis „Ich könnte“. Das Meer zeigt uns und besonders der Protagonistin, wie flüchtig alles ist. Die Erlebnisse, die die Protagonistin mit den Mitreisenden erlebt, zeigt, wie wenig wir von den Anderen wahrnehmen. »Menschen sind wie Eisberge: Von den meisten sieht man nur ein Siebtel.«

Die Erzählerin soll an einer Expeditionskreuzfahrt teilnehmen, um die Arktis zu fotografieren. Die Schiffspassage soll von der Südspitze Grönlands nach Alaska führen. Diese Reise kommt der Fotografin gerade recht. Denn sie ist gerne unterwegs und meidet ihr Zuhause. Sie hat keine Familie und ihr Beruf fordert sie stets auf, nach vorne zu sehen. Der Blick zurück, besonders der familiäre Verlust, wirkt schmerzhaft. Doch nimmt sie all ihre Emotionen und Gedanken mit an Bord. Durch die Weite des arktischen Gewässers und der Enge auf dem Schiff schweift ihr Blick von sich auf die Anderen. Sie fühlt sich, als allein reisende Frau, unwohl zwischen den anderen Passagieren. Es gibt zum Beispiel einen eitlen Schriftsteller, der nicht die Reise als Objekt seiner Recherche nutzt, sondern die älteren Mitreisenden eines Buchclubs. Eine schrille Influencerin, die keine Umgangsformen besitzt und die ganze Schiffscrew und das wissenschaftliche Begleitpersonal. Am liebsten sitzt die Fotografin bei einem seeerfahrenen, älteren Herrn am Tisch, um mit diesem einfach den Blick auf das Meer zu genießen.

Da das Eis unberechenbar ist, muss neuer Kurs genommen werden und es geht Richtung Neufundland. Dennoch plant die Crew auf der Passage Sehenswürdigkeiten ein und bietet einige Landausflüge an. Die Erzählerin sucht meistens den Abstand und beobachtet die Menschen, die wie Blattläuse die Land- und Ortschaften kurzweilig befallen. Ihr Fokus wandert aber auch zu sich selbst. Sie möchte die Umgebung nicht mehr durch ein Fernglas oder Objektiv wahrnehmen. Durch diesen Fernrohr-Blick vergrößert man zwar etwas, minimiert aber dadurch den Ausschnitt und verkleinert seine Welt. So funktioniert auch der süchtig machende Blick auf Smartphone und Co. Sie beginnt zu zeichnen und merkt, wie auch im Leben, wie hilfreich es ist, etwas wegzulassen. Sie registriert, wie wenig sie tatsächlich benötigt. Doch ohne einen Horizont, ohne einen Bezugspunkt, spielt das Leben mit einem seine Streiche.

Die Weite des Nordens als Fluchtpunkt, in dem man aber keine Chance hat, sich zu verstecken. Eine Reise, die neben der Natur auch einen Blick auf sich und sein Umfeld zulässt, wenn nicht sogar herausfordert.

Ein schöner, kluger und leicht sarkastischer Roman. Der Blick auf die Figuren ist mit viel Empathie beschrieben und die Reise mit den ganzen Facetten ist lebendig und schön erzählt. Die Autorin versteht es, mit Hilfe der Sprache und ihren Bildern Emotionen und Gedanken zu erwecken. Arezu Weitholz hat neben ihren Romanen und Gedichten auch Texte für Die Toten Hosen, Udo Lindenberg, 2raumwohnung und Herbert Grönemeyer geschrieben. Das Buch ist eine schöne und tolle Lesereise.

Zum Buch in unserem Onlineshop

Weitere Lesetipps von mir auch auf YouTube: Leseschatz-TV

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