Julia Jessen: „Alles wird hell“

alles wird hell

nm55as4511WOUYNKYHDas Buch beginnt mit dem Ende. Oda als alte Frau steht in ihrem Vorgarten und raucht. Wiedermal schaut sie nur auf ihre Füße als sie stürzt. Während sie am Boden liegt läuft ihr Leben in ausgewählten Situationen und Bildern an ihr vorbei. Mehrere Phasen durchlebt sie erneut bis sie ins Licht geht: Aufbrüche, Abnabelung, Entfremdungen, Abschiede und zwischendurch springen ihre Erinnerungen wie in einem Traum.

In Julia Jessens unglaublich schönem Debüt wird die Geschichte einer Frau erzählt, die das Glück und familiäre Beständigkeit sucht. Wir begegnen Oda als kleines Mädchen, die ihre erste Freiheit erahnt aber auch die Kraft der Lüge erlernt. Als Sechzehnjährige, die sich und ihre Gefühle innerhalb ihres Umfelds und besonders ihrer Familie einordnen möchte. Ihre Verwandtschaft, die sie provozierend aber stets liebevoll beobachtet. Als Vierzigjährige, die sich ein zweites Kind wünscht und dadurch in ein dunkles Loch fällt, da sie meint ihren Mann bei einer Lebenslüge erwischt zu haben und sie sich selber und ihr Umfeld belügt. Wie kann man diese Entfremdungen überwinden und die Liebe bewahren? Bis ins hohe Alter? Wir, die Leser, verlassen Oda als alte Frau, d.h. sie verlässt uns, denn sie geht ins Licht und alles wird hell…

Der Aufbruch beginnt mit der Hochzeit ihrer Tante. Oda beobachtet ihre Verwandtschaft, wie sie sich in die Vorbereitungen verstrickt und jeder seinen Platz innerhalb der Familie einnimmt. Die Diskussion um die Platzkarten sind ein Rahmen, der jeden in seinen Bereich einzuteilen scheint. Das Ehebündnis soll auf Sylt mit einem schamanischen Zeremoniell geschlossen werden. Doch die Feier wird durch den plötzlichen Tod Odas Urgroßmutter getrübt. Der Tod wird im Roman ein beständiger Begleiter bleiben. Er ist immer im Leben gegenwärtig, sei es in dieser Geschichte die Urgroßmutter, das ungeborene Kind, der Ehemann oder Oda.

Jahre später ist Oda verheiratet und Mutter. Doch in ihr nagt der sehnlichste Wunsch nach einem weiteren Kind. Doch auf einmal verweigert ihr Ehemann das zweite Kind, wobei er stets behauptet hatte, ebenfalls weitere Kinder zu wollen. Für Oda ist dies eine Verletzung, da sie ihm diese Lüge nicht so schnell verzeihen wird. Dies ist der Beginn der Entfremdungen. Doch Oda arbeitet an sich und will die Liebe bewahren. Ihr Leben als Tänzerin hat sie gelehrt, die Balance zu halten. Denn es ist wichtig bei einem kleinsten Pfad nicht nur auf die Füße zu achten, sondern stets den Blick auf das helle Umfeld zu richten und den kommenden Schritt zu fühlen. Wer lediglich auf die Füße schaut, fällt. Gleich den vielen Farbenspielen im Buch. Julia Jessen baut immer wieder farbige Metaphern ein bis alle Farben ineinander fallen und sich ergeben und am Ende Weiß werden. Alles wird weiß. Weißes Licht…
Das Buch spielt mit Farben und Grenzen. Jene Linien, Zäune, Gräben und Häute, die uns vom Gegenüber trennen können. Gleich dem kleinen Schritt auf der Bühne, auf der man seine Rolle spielt oder tanzt. Ein Roman der uns lehren kann, die Balance zu halten und, dass wir keine einzelnen Staubpartikel sind, die alleine im Licht tanzen.

„Sie hat einen verzweifelten Kampf, ein Ringen um die richtige Form getanzt. Den Kampf der Menschen um eine Form, eine Haltung, die sie durch das Leben tragen kann. Die uns hält. Und sie hat davon erzählt, wie die Menschen auseinanderfallen. So habe ich das verstanden.“

Ein großartiger Roman. Voller Leben und Liebe. Eine Liebeserklärung an das Leben. Ein Roman, der den Leser das Wesentliche betrachten lässt. Sehr gegenwärtig und farbenfroh… Ein heller Roman, ein Leseschatz, der gelesen gehört.

Lesung mit Julia Jessen: Freitag, 12.06.2015 in der Buchhandlung Almut Schmidt, Kiel

2 Kommentare

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2 Antworten zu “Julia Jessen: „Alles wird hell“

  1. Hört sich sehr gut an – werde ich mir merken :-). LG Birthe

  2. Pingback: Julia Jessen: „Die Architektur des Knotens“ | leseschatz

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