„Ist es nicht seltsam, dass gleich nichts mehr so ist wie jetzt?“
Wie oft kann ein Mensch von vorn beginnen?
Mal wieder ist unser Leseschatz ein literarisches Debüt. „Der Grund“ von Anne von Canal erzählt die Geschichte eines Mannes, der durch äußere Umstände stets gezwungen wird, sich neu zu finden und zu erfinden…
Die Autorin, Anna von Canal, wurde 1973 geboren und war nach dem Studium der Skandinavistik und Germanistik zehn Jahre lang im Verlagswesen tätig, bevor sie sich selbst dem Schreiben widmete. Heute lebt sie auf einem Weingut an der Mosel und zeitweise in Hamburg.
Ein Roman, der dem Leser in zeitlichen Sprüngen, Rückblicken und Tagebucheinträgen den Protagonisten Laurits sehr nahe bringt. Mit allen Sinnen kann man sein Leben zwischen großbürgerlichem skandinavischen Elternhaus, Pflichterfüllung und Freiheitsdrang verfolgen. Man wird sein Begleiter auf seiner Suche nach Aussöhnung auf den Meeren der ganzen Welt…
Das Buch beginnt mit einem zitierten Dialog, der bis auf wenige Abweichungen dem Funkverkehr zwischen der MS Silja Europa und der Estonia in der Nacht des schlimmsten Schiffsunglücks Europas basiert und lässt einen tragischen Verlauf der Geschichte erahnen.
Die Handlung beginnt mit den ersten Tagebucheinträgen von Laurits aus dem Jahr 2005. Er ist als Pianist auf einem Kreuzfahrtschiff und erlebt seine Vergangenheit erneut.
Er wurde in einem wohlhabenden Stockholmer Vorort in den Sechzigerjahren geboren und liebt das Spielen im und am Wasser. Vor allem aber lebt er in den Klavierstunden bei Fräulein Andersson auf. Überall fühlt er sich wohler als in Gegenwart seiner überspannten Mutter und des dominanten Vaters.
Auch wenn Entscheidungen oder Beeinflussungen durch andere Personen gut gemeint sein könnten, kann die Wirkung für den Betroffenen schlimme Folgen haben. Der strenge Vater, selber Chirurg, plant für seinen Sohn eine Zukunft als Mediziner. Doch die Leidenschaft von Laurits ist die Musik und als er 18 wird, schließt sein Vater mit ihm einen Pakt. Sollte er bei einem Vorspiel eines Konservatoriums als Schüler angenommen werden, stellt sein Vater sich ihm nicht in den Weg. Wenn er nicht aufgenommen werden sollte, verlangt der Vater das Laurits gleich ihm Medizin studiert. Da er aber ein sehr begabter Pianist ist, scheint eine Karriere als Konzertpianist zum Greifen nah, und er spielt um sein Leben. Doch es kommt anders als gedacht, denn er besteht die Aufnahmeprüfung nicht…
Laurits findet seine Bestimmung als Arzt – und mit seiner großen Liebe Silja und der gemeinsamen Tochter Liis das Glück. Aber auf einer Familienfeier, ihrem zehnten Hochzeitstag, muss er erfahren, daß sein ganzes Leben auf Sand gebaut ist.
„Ohne Zweifel war dies der Moment gewesen, in dem sein Leben tatsächlich von vorn begann. Neubeginn der Zeitrechnung. Wiedergeburt.“
Daraufhin fällt Laurits eine folgenschwere Entscheidung, die sein Leben und das Leben seiner Familie gänzlich auf den Kopf stellen wird. Ein tragisches Schicksal fordert erneut einen Neubeginn…
„Drei Sekunden reichten, um endgültig Abschied von allem zu nehmen, was ihm wichtig war.“
„Der Grund“ hat eine enorme Sogkraft. Das Buch ist literarisch und wunderbar geschrieben. In Teilen hat man das Gefühl etwas oder einen Handlungsstrang verpasst zu haben. Doch wird dieser gekonnt als Folge oder als ein Blick zurück eingebaut. Ein poetischer Text, der viel Raum für Emotion und eigene Gedanken lässt.
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