Ein Whiteout ist ein meteorologisches Phänomen, das den Horizont verschwinden lässt. Himmel und der Grund, d.h. der Boden werden zu einer Fläche. Alles wird zu einem weißen Leuchten. Meist tritt dies in den Polar- oder Bergregionen auf, wenn es in Schneegebieten nebelig wird oder Schneefall einsetzt. So verwischen sich in dem Roman auch langsam die Fixpunkte. Die Protagonistin verliert ihre Bodenhaftung durch ihre Bohrungen in der Vergangenheit. Das wortlose Verschwinden einer Freundin der Ich-Erzählerin hat eine Wunde hinterlassen, die in der Eiswüste wieder aufbricht. Gleich der von David Bowie erschaffenen Figur Major Tom, dessen Songs im Roman oft gehört werden, verlieren sich die Charaktere in einer menschenunfreundlichen Umgebung.
Hanna ist Glaziologin und mit vier weiteren Kollegen auf einer Antarktisexpedition. Mit Hilfe einer Bohrung so tief wie der Eifelturm hoch ist, wollen sie im Eis in die Vergangenheit reisen. Das Eis vergisst nichts und jede Wetterlage und jedes Phänomen lassen sich in den Eisproben, die sie heraufschaffen, ablesen. Bereits als Kind wollte Hanna Entdeckerin oder Forscherin werden. Sie wollte etwas großes, etwas anderes finden. Immer wieder hört sie mit ihrem Bruder, Jan, ihre Hörspiel-Platte um Scott und Amundsens Wettlauf zum Pol. Später hat sie ihren Traum umgesetzt und ist Leiterin in einem Camp in der Eiswüste.
Während der Aufbauphase der Bohrungen im Eis, erreicht Hanna plötzlich eine E-Mail von Jan. Er schreibt nur wenige Zeilen, doch seine Worte lassen ihre Erinnerungen wieder aufbrechen und sie kann sich immer weniger auf ihre Crew und die Arbeit einlassen. Sein Schreiben bezieht sich auf ihre Spitznamen aus der Kindheit. Scott, d.h. Fido, soll laut der Mail von Jan gestorben sein.
Jetzt kreisen Hannas Gedanken beständig um ihre Vergangenheit und um die Freundschaft zu Fido, der Pfarrerstochter. Das zu erforschende und eingefrorene Klima rückt immer mehr in den Hintergrund. Fast alles bietet Hanna einen Anstoß, um sich an ihre Kindheit zu erinnern. Es entsteht ein Wechselspiel zwischen der weißen, eisigen Landschaft und der lichten, sonnigen Zeit ihres Erwachsenwerdens. Hanna ist mit vier weiteren Kollegen ins Eis gereist und lebt dort unter extremen Bedingungen. Die fünf Menschen arbeiten sehr eng und nah beieinander, ohne sich wirklich zu kennen. Aber auch die Geschichte ihrer Kindheit hatte seine Geheimnisse. Die drei Kinder, Jan, Fido und Hanna waren eine sehr vertraute Gemeinschaft und planten die gemeinsame Zukunft. Doch nach einem gemeinsamen Urlaub in Frankreich kam es zu einem wortlosen Bruch. Fido ist ihren eigenen Weg gegangen, sie ist ganz still, ohne Hanna etwas zu sagen, weggegangen. Sie hat niemals eine Andeutung oder die kleinste Vorwarnung oder Erklärung abgegeben. Fido ist einfach so aus Hannas Leben verschwunden und nun, zwanzig Jahre später, erreicht sie die Nachricht von Jan.
Hanna ist in der Eiswüste gefangen und ihre Gedanken und Emotionen lassen sie immer dünnhäutiger werden. Auch ihre Kollegen haben unter ihren Launen zu leiden und die Situation spitzt sich immer mehr zu. Hanna kann den offenen Fragen nicht länger aus dem Weg gehen. Gerade jetzt, während draußen ein heftiger Sturm aufzieht, der das Camp in wenigen Stunden gänzlich erreichen wird.
Anne von Canal versteht es, nach „Der Grund“ erneut eine Grenzsituation mit ganz genau gezeichneten Charakteren zu entwerfen. „Der Grund“ war ebenfalls ein poetischer Text, der viel Raum für Emotionen und eigene Gedanken lässt. „Whiteout“ ist weniger verschachtelt und wohl etwas weniger raffiniert, dennoch ein wunderbares Buch, in dem es Anne von Canal ganz genau versteht, immer zum richtigen Zeitpunkt mit dem Erzählen aufzuhören, damit die entstehende Stille, d.h. hier die weiße Leere, viel im Leser auslösen kann. Die Bilder und die Gegenspiele wirken anfänglich etwas einfach: Frankreich, Antarktis, Bohren und die Suche in der Vergangenheit. Doch ist alles passend und niemals überspitzt dargestellt. Das Werk entwickelt seinen ganz eigenen Sog und versteht es, den Leser gänzlich mit den gut beobachteten Figuren zu fesseln und zu unterhalten. Am Ende beginnt in einem selbst eine kleine Rückschau auf das Gelesene, denn was ist der Auslöser, dass jemanden einfach wortlos gehen mag? Was bleibt bei den Zurückgelassenen? Wie kann es zwanzig Jahre nach den Geschehnissen immer noch zu einer solchen Zerreißprobe kommen?
Anna von Canal liest aus „Whiteout“ auf zehnseiten.de . Siehe auch die Besprechung auf zeichenundzeiten
Ich fand es längst nicht so gut wie „Der Grund“. Meine Besprechung kommt auch in Kürze …
Ich fand es hingegen sehr gut, kenne aber „Der Grund“ auch nicht. Auch von mir gibt es in Kürze eine Besprechung. Viele Grüße
Pingback: Spuren – Anne von Canal „White Out“ – Zeichen & Zeiten
Auf mich verübte das Buch auch einen „Sog“. Seit langem mal ein Buch, dass ich an einem Tag auslesen konnte. Ich glaube auch, dass „Der Grund“ mir noch besser gefiel, doch hat dieses Buch durchaus besondere Momente und löste einen langen Nachhall bei mir aus.