Ein Romandebüt von Julia Rothenburg über eine verordnete Entschleunigung eines Mannes um die Vierzig, dessen Leben in wenigen Tagen im Krankenhaus umgekrempelt wird. Für das Manuskript erhielt Julia Rothenburg bereits den Retzhof-Preis für junge Literatur. Der Roman liest sich gleich einem Kammerspiel mit sehr genau gezeichneten Figuren, die sich in einem Klinikkomplex aufhalten. Die junge Autorin hat einen Mann mittleren Alters ins Leben gerufen, der wegen eines Verdachts auf Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wird.
René Koslik hatte einen geregelten Alltag. Alles schien für ihn in bester Ordnung gewesen zu sein. Seine innere Abwesenheit glänzt nach außen als Arroganz und das Grau des Krankenhauses spiegelt irgendwie seine innere Leere. Denn der robust erscheinende Mensch erträgt nicht alles und der Körper schafft sich seine Ventile. Einen Schlaganfall zum Beispiel.
René Koslik weiß nicht, ob er tatsächlich krank ist, er hat nie darüber nachgedacht. Kann es sein, dass man etwas Schreckliches hat, ohne dass man es merkt? Sein Leben in der Klinik erlebt er als zufällig. Doch schleicht sich die Angst bei jeder Untersuchung in sein Unterbewusstsein. Während seines Aufenthaltes im Klinikum hat er Zeit, sich seine Gedanken zu machen. Im Krankenhaus kann er sich selbst nicht entkommen. Da bei ihm bisher keine tatsächlichen Befunde diagnostiziert werden konnten, müssen noch einige Tests gemacht werden. Anfänglich ist Koslik in dem Gebäude untergebracht, in dem auch die Untersuchungen stattfinden. Wann er jeweils zu den Behandlungen abgeholt wird, bleibt immer undurchschaubar und sein Zimmernachbar Friese, der anscheinend viel kranker ist, erlebt den Klinikrummel viel duldsamer. Kosliks Aufenthalt lässt ihn immer lethargischer werden. Seine Grübeleien bekommen durch einen weiteren Patienten eine neue Anregung. Es ist sein ehemaliger Kommilitone und ewige Konkurrent Frank, der meist im Bademantel durch die Gänge streift und im Essenssaal auftaucht. Frank möchte sich oft mit Koslik treffen, um über alte Zeiten zu reden. Doch Koslik versteht es, sich immer wieder herauszureden und meint ihm gänzlich aus dem Weg gehen zu können, als er verlegt wird. Da Koslik noch gut zu Fuß ist, wird er in den Komplex verlegt, der aus einem alten Hotel umfunktioniert wurde. Hier lernt er den gesprächigen Bude und die Maltherapeutin Klemm kennen. Da sich seine Untersuchungen verzögern, wird Kosliks Aufenthalt zu einer Neuorientierung und Selbsterkenntnis. Seine Tage im Krankenhaus vergegenwärtigen ihn seine allgemeine Situation. Die Zukunft liegt vor ihm in einem ungewissen Nebel und die Vergangenheit wird ihm durch seine Mutter, die Schwestern und dem immer wieder auftauchenden Frank ins Bewusstsein gebracht. Frank hat weiterhin Kontakt zu ihrer ehemaligen Freundin Marlies, die durch ihre jetzigen Besuche bei Frank auch erneut in Kosliks Leben stolpert.
Durch die Ungewissheit um seine Gesund-, d.h. Krankheit und die Konfrontation mit den anderen Klinikinsassen und Besuchern wächst in Koslik eine Unruhe und Melancholie, der er gleichzeitig auch immer überdrüssiger wird. Er bekommt immer mehr schlechte Laune, die das beständig Unterdrückte zu Tage fördert. Er steigert sich aus seiner inneren Verkrampfung in eine Wut, die sich auf sein Umfeld richtet. Sein ehemaliger Wille zur Anpassung verflüchtigt sich immer mehr. Aber reflektiert er sich genügend? Ist es nicht auch sein Ego, das ihn den anderen gegenüber arrogant erscheinen lässt? Alles scheint in und um Koslik im Wandel begriffen zu sein. Sein Weltbild stellt sich durch die wenigen Tage in der Klinik auf den Kopf. Sind ihm tatsächlich in einem Wartezimmer die drei Nornen erschienen? Jedenfalls wird ihm die von ihm selbst unterdrückte Wahrheit vergegenwärtigt.
Das Labyrinth der Klinik ist eine fesselnde Kulisse für dieses Schauspiel um einen Mann, der uns von Julia Rothenburg auf den Seziertisch gelegt wurde. Ein Debutroman einer jungen Autorin, die es versteht, sich ihren Charakteren gänzlich hinzugeben und ihnen Leben einzuhauchen. Der Roman ist für mich eine gelungene literarische Überraschung.
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