Ist noch alles möglich? Kann man der Wahrnehmung trauen? Was hat man gesehen und was meint man beobachtet zu haben? Was gaukelt einem die eigene Erinnerung und das von anderen Erzählte vor? Das Leben in einem abgeschirmten Kasten und die Welt mit dem Versprechen auf Ferne da draußen. Doch dann scheint etwas Natürliches, Märchenhaftes und Wildes in diesen Kasten, d.h. dieses Fabrikgelände, Einzug zu halten und plötzlich verändert sich einiges.
Der Debütroman von Gianna Molinari reiht sich ein in die Werke jener jungen und kreativen Schöpferinnen der gegenwärtigen, neuen Literatur, die in unserer Realität die Pforten für das Surreale, Skurrile und Phantastische öffnen. Zu nennen sind da als Beispiel und als Verweis: Juliana Kálnay: „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“, Maren Wurster: „Das Fell“, Lisa Kreißler: „Das vergessene Fest“ und Julia Rothenburg: „Koslik ist krank“. Gianna Molinari hat ebenfalls einen eigenwilligen Roman geschrieben, der wie ein Bühnenstück wenig Raum einnimmt und vieles eindeutig mehrdeutig beschreibt. Ein Text, in dem vieles möglich ist. Menschen fallen vom Himmel. Wölfe werden gejagt. Gruben stürzen ein und die Figuren leben alle, als wären sie Bewohner eigener kleiner Inseln, die sich nur zufällig ab und zu berühren.
Die Erzählerin, die ihr Wissen textlich und zeichnerisch in einem „Universal-General-Lexikon“ fixiert, wird in einer Fabrik als Nachtwächterin eingestellt. Sie ist eine bibliophile Träumerin, die die Welt staunend und dadurch keck philosophisch betrachtet. Es ist eine Fabrik für Kartonage, vorrangig werden, d.h. wurden Verpackungen hergestellt. Während des Bewerbungsgesprächs hat sie sich einen Raum zum Wohnen innerhalb der Firma erbeten. Doch der Arbeitsvertrag ist eine Interimslösung und befristet. Der Chef will eigentlich nichts mehr investieren und der Termin, wann letztendlich die Firma schließen wird, steht vorerst in den Sternen. Doch damit alles mit rechten Dingen abläuft, bekommt die junge Frau die Stelle als Nachtwächterin. Gerade auch, weil der Koch der firmeneigenen Kantine einen Wolf gesehen haben will. Ein Wolf, der in das Gelände eingedrungen sein soll. Mit der kleinen Gruppe an Menschen, die in der Firma noch arbeiten, begibt sich die Frau auf die Suche nach dem Wolf. Obwohl bisher lediglich der Koch das Raubtier gesehen hat, werden Fallen aufgestellt und sogar eine tiefe Grube ausgehoben. Die Erkenntnisse und Erlebnisse hält die Erzählerin in ihrem „Universal-General-Lexikon“ fest und es wird letztendlich eine Suche nach sich selbst.
In der Nähe des Geländes befindet sich ein Flugplatz, wo später auch ein Kollege eine neue Einstellung findet. Dieser Flughafen wird der zentrale Handlungsort des zweiten Abschnitts im Roman. Ein Ort der Ferne, Weite und des Neubeginns. So wandert der Roman von den Bildern des Äußeren zum Inneren. Die Weite und die Enge stehen sich stets gegenüber.
Der biologische Fremdling, der Wolf, der innerhalb der Firma sein soll, bestimmt den Großteil des Tagesablaufs. Doch beschäftigt sie auch der Mann, der vom Himmel fiel. In einem nahegelegenen Waldstück wurde eine Leiche gefunden, wohl ein afrikanischer Flüchtling, der aus dem Schacht eines Flugzeugfahrwerks gestürzt sein soll. Auch im letzten Abschnitt gibt es eine weitere Sichtung, die alle beschäftigen wird. Ein Phantombild einer Frau, die eine Bank überfallen hat. Das Bild der Räuberin hat Ähnlichkeiten mit der namenlosen Nachtwächterin.
Ein Text, der befremdlich ist, durch diverse Skizzen, Fotos aufgelockert wird und einen kuriosen Lesesog entfesselt. Ein Roman, der zeigt, dass bei der Autorin in Zukunft noch vieles zu erwarten ist, denn der Roman beweist, es ist noch alles möglich. Ein kurzweiliger, aber intensiver Lesespaß. Es geht um die Leere, die sich in uns auszubreiten droht und darin ist ein Wolf ein willkommenes Sinnbild des Natürlichen, das unsere ungenutzten, inneren Hallen wieder beleben könnte.
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