Ein Debütroman einer jungen Kieler Autorin, der bunt ist und uns Leser verwirrt, begeistert und uns zu voyeuristischen Beobachtern macht. Der kurzweilige Episodenroman wirkt wie ein expressionistisches Theaterstück, in dem Szene für Szene ein Bild zusammengesetzt wird. Ein Bild eines Hauses und deren Bewohnern. Doch ist es ein Bild, das, kaum gesehen, wieder verschwindet, gleich einem in Sand gemalten, farbefrohen Mandala. Ein Haus, in dem es rumort und unentdeckte Türen und Räume auftauchen und diese mit seinen Mietern verschwinden können…
Der Roman liest sich wie ein surrealer Besuch bei „Biedermann und die Brandstifter“. Ferner werden durch diesen experimentellen Roman Erinnerungen an Michael Endes Stück „Die Spielverderber – Oder Das Erbe Der Narren: Commedia Infernale“ wach.
Es ist ein phantastisches Buch voller irrer und skurriler Figuren und Geschichten. Ein Mehrfamilienhaus mitten in der Stadt, das bewohnt wird von Menschen, die sich mehr oder weniger gut kennen. Das Buch erzählt in kurzgehaltenen Kapiteln von den jeweiligen Bewohnern des Hauses Nummer 29. Wir begegnen chronisch schlaflosen Menschen, die uns verschroben im Treppenhaus begegnen und sich gerne einladen lassen. Wir lernen Ronda kennen, die ein Aquarium mit Goldfischen hat. Doch hält die Fische nichts in ihrem lebenswichtigen Nass. Ronda wacht auf und entdeckt, dass ihre Fische nicht im Aquarium bleiben wollten. Die toten Tiere werden in Blumenerde unter Katzenminze beerdigt, was wohl auch für den komischen Geruch im Haus sorgt. Es gibt auch eine Wohnung im vierten Stock mit Katzenklappe, die lediglich zum Balkon führt. Jetzt wohnt dort ein Bewohner, der kein Haustier hält, aber dies als Minifluchtweg ansieht. Im Haus leben auch einige Kinder, die anfänglich viel mit Maia spielen. Maia spielt gerne Verstecken und buddelt Löcher, gleich einem Maulwurf, bis sie später ganz verschwindet. Die zentrale Figur im Haus scheint Rita zu sein, die schon ewig im Haus Nummer 29 wohnt. Sie kennt alle und beobachtet das Leben um sie herum.
Gleich der „Vegetarierin“ von Han Kang lernen wir ein Ehepaar kennen, dessen Liebe aus einem natürlichen Umfeld in eine unnatürliche Transformation erwacht. Don der jetzt als Baum auf Linas Balkon steht, gepflegt und geliebt wird, ist ein Magnet für Besucheranstürme und seine Früchte der Grundstoff süßer Marmeladen. Ein Mitbewohner, der sich durch die offenstehende Tür Zugang verschaffen hat, lebt fortan im Fahrstuhl und richtet seine Kochnische im vierten Stock ein. Das Haus und seine Bewohner haben alle ein Eigenleben. Die Bewohner beleben das Haus und das Haus ist der Handlungsort des allmählichen Verschwindens, denn es gibt nicht nur Kinder, die sich durch die Mauern beißen und graben, sondern auch eine Wohnung, die die Mieter verschluckt. Rita ist die Person, die wohl alles versteht und ihr Wissen gerne teilen würde.
Der Werbespruch eines großen Möbelunternehmens wabert beim erstaunten Lesen im Kopf herum. Denn es gibt Menschen, die Wohnen einfach und es gibt Menschen die erfüllen ganz und gar ihren Wohnbereich. Alle Nachbarn sind, zumindest durch das Haus, miteinander verbunden. Doch spiegeln sie ebenfalls den Zeitgeist der inneren Vereinsamung. Gleich Schnecken, die ihr Haus mit sich herumtragen und durch ihr Leben kriechen. Laut dem Buch gibt es auch Nacktschnecken, dessen Haus sich auflöst und gänzlich verschwindet…
Anfänglich lässt sich der Roman schwer einordnen, durch die sehr kurzen Kapitel durchwandert man aber sehr schnell das ganze Haus und liest den Text gebannt und verfolgt staunend die ganzen Geschichten.
Ein phantastischer, surrealer und kurzweiliger Roman. Die Autorin hat ein sehr außergewöhnliches, gewöhnungsbedürftiges Werk geschaffen. Sprachbegabt versteht es Juliana Kálnay uns durch das Treppenhaus ihrer großen Phantasie zu jagen. Gleich Rita im Roman lernen wir Leser, durch Wände zu sehen und werden Zeuge jener komischen, berührenden Episoden.
Ich bin sehr gespannt. Am Dienstag ist die Buchvorstellung in Berlin.
Viele Grüße!
Mich hat das Buch auch sehr beeindruckt https://literaturgefluester.wordpress.com/2017/02/18/eine-kurze-chronik-des-allmaehlichenverschwindens/
Dieses Buch ist auf meiner Vorbestellungsliste und ich bin schon sehr gespannt. Kann man es wirklich mitberechnen Vegetarierin vergleichen? Die Vegetarierin fand ich interessant, da es anders war, als ich es erwartet hatte.
Moin!
Ein Vergleich ist immer schwierig… aber es hat mich in eine vergleichbare Stimmung versetzt.
Ich hoffe, Du hast ebenfalls ein tolles Leserlebniss.
Ich freue mich, denn Juliana Kálnay wird nun auch bei uns lesen…
Pingback: Gianna Molinari: „Hier ist noch alles möglich“ | leseschatz