Julie Otsuka: „Solange wir schwimmen“

Ein wiederkehrendes Thema der Autorin ist das individuelle Auflösen in der Masse und ein Einkehren im Wir. Die Autorin Julie Otsuka schreibt ungewöhnliche Wunderwerke. Ihre Perspektive auf ihre Geschichten sind dem Individuellem enthoben, um letztendlich genau die persönliche Einzigartigkeit, die uns allen innewohnt, zu fokussieren. Die Sprache ist auf das Wesentliche reduziert und erzeugt dadurch Raum, der wie ein kleiner Riss plötzlich auftaucht und kontinuierlich im Kopf und Herzen wächst.

Ihr Roman „Wovon wir träumten“ war damals ein Überraschungserfolg. Wie ein Chorgesang wurde darin die Geschichte der Japanerinnen erzählt, die voller Hoffnung auf ein besseres Leben nach Amerika auswanderten. Es sind Frauen, die mit japanischen Einwanderern vermählt werden. Bis zu ihrer Ankunft kennen sie die Männer lediglich als Abbild und dies zerplatzt bei der Einreise.

Erneut ist es die Geschichte von Japanern in Amerika. Erneut ist es ein rhythmischer Chorgesang, der im Wir geschrieben ist und zuweilen in der direkten Anrede das Du anbietet. Dennoch ist der neue Roman von Otsuka ein anderer. Er wandelt von einer Schwimmhalle im Keller zu einer Pflegeeinrichtung namens Belavista und vom Wasser zur Wüste. Solange sie schwimmen ist für die Viele, die erzählt, die Welt noch eine erträgliche. Es sind Menschen, die aus therapeutischen, sportlichen, gesundheitlichen oder aus leidenschaftlichen Gründen ihre Bahnen ziehen. Die Kerngruppe hat ihre Mehrstimmigkeit und beharrt auf Abstand und der stets eigenen Bahn. Wie im Leben oberhalb des Bades gibt es hier unten Regeln. Regeln und Rituale, die besonders Alice Struktur geben. Alice ist es, die in der Mehrstimmigkeit auftaucht und heraustritt. Ihr Leben, ihre Erinnerungen drohen zu verschwinden. Der Wendepunkt kommt mit einer Fraktur. Ein unbedeutender Riss im Becken. Vermutungen, Sorgen und Überinterpretationen bestimmen den Chorgesang. Als die geliebten Bahnen nicht mehr gezogen werden können, verändern sich das Thema und der Klang des Buches.

Alice ist demenzerkrankt. Vorerst ist es mehr eine zeitliche Demenz. Dennoch kommt ihr die Welt abhanden und ihre Tochter versucht, die Erinnerungen zu bewahren. Die Tochter ist Schriftstellerin und hatte eine feste Vorstellung vom Leben. Die Geschichte soll nicht versiegen und die letzten Zeugen sollen gehört werden. Die Geschichte der Japanerinnen in den USA. Die Ansprache ist stets in der Du-Form deutlicher und unmissverständlich. Im Wir sind die Einzelschicksale verwässert und stechen dennoch deutlich hervor. Im Du geht es um Verlust und das Abhandenkommen. Im Wir schwimmt einiges noch eher im Einklang.

Ein Roman über die Verantwortung innerhalb von Familienkreisen, von Mutterliebe und Demenz. Ein bewegender Text, der trotz der knappen Sätze und Szenen erobert werden will. Denn der Inhalt zeigt sich vorerst wie jener kleine Riss im Schwimmbad. Ein klangvoller und ergreifender Roman, der aber auch viel Humor besitzt. Das Buch wurde von Katja Scholtz aus dem Amerikanischen übersetzt.

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