Der Leseschatz des Jahres

stammt von Ragnar Helgi Ólafsson und heißt „Lose Blätter“. Das Buch begeistert und ist nebenbei wunderschön. Das Werk lädt ein zum Verweilen und kann immer wieder neu entdeckt werden. Ein Buch ohne Verfall und mit diversen Zugangsmöglichkeiten. Ragnar Helgi Ólafsson ist ein isländischer multi-kreativ Künstler, zumindest Maler, Musiker und Autor. Erneut wurde das zweisprachige Werk großartig übersetzt von Wolfgang Schiffer und Jon Thor Gíslason.

Die Texte laden ein mit und durch die Zeilen zu reisen. Dabei bleibt es nicht bei einer Reise, denn es gibt viele Wege, diesen Schatz zu finden und immer wieder zu ergründen.

„Die Kunst des Gedichtes ist keine Kunstform. Die Kunst des Gedichtes ist Lebensform.“ (aus „Das Kraftwerk der Lebenspoesie“ Seite 21)

Diese Gedichte und Texte spielen mit Philosophie, Humor und mit der Sprache. Dabei entsteht Schönes und Kluges. Zeilen, die nachklingen oder vorbeirauschen. Wenn sie still und ohne innerliche Fixierung gelesen wurden, erkennt man beim erneuten Durchstöbern oder beim Nachsinnen, dass es oft nur eine scheinbare Einfachheit war, die beim ersten Lesen vorbeirauschte. Nichts ist in diesem Buch wie erwartet. Es ist Lyrik und es sind Notizen, lustige Strophen, Liebesgedichte, Trauerverse, Ratschläge und vieles mehr. Es sind auch Texte, die nur in der Dämmerung entstehen können: „Die Gedichte schießen zur Stirn hinein / und zum Nacken hinaus. / Wie ein Traum am Morgen.“ Heißt es zum Beispiel um „6:47“ (Seite 13). Beim Lesen erahnen wir ein zeitloses Leben ohne Uhren, die doch nur eine fixierende Erfindung sind. 

Lose Blätter waren es wohl. Doch nun ist es ein schön gestaltetes und gebundenes Buch. Form und Inhalt passen kunstvoll zusammen. Das ursprünglich und schlicht Anmutende wurde in Kapitel, Seiten und mit der Inhaltsangabe gerahmt. Auch hierbei gewinnt erneut das Unerwartete und das Vorhersehbare wird gerügt. Das Werk beginnt mit Kapitel III und Endet mit dem II. Der Umschlag wird durch eine Banderole ergänzt. Auf dieser wird ein Zugang zum Inhalt empfohlen. In jedem Buch befindet sich ein individuelles Lesezeichen mit einem Vorschlag in welcher Reihenfolge die Gedichte gelesen werden könnten. Jede Ausgabe ist nummeriert und somit für den Besitzer einzigartig. Jeder, der somit dieses Buch hat, bekommt einen ganz anderen, persönlichen Reiseantritt. Dieser Eintritt verspricht, keine Pauschalreise zu sein und lädt danach zu einer beständigen Rückkehr ein. Beim erneuten Eintritt, kann man dann seine Lieblingsplätze erneut besuchen oder ganz neue finden.

Ein Buch mit mannigfaltigen Ideen, Zugängen und Anstößen. Diese Verse, Variationen und Lebensbetrachtungen sollten länger ein Begleiter sein. „Nicht mit dem Lesen aufhören. Unter der letzten Seite ist eine Tür. Der Türsteher passt auf sie auf für dich. Sie ist nur für dich gedacht. Wenn du sie erreichst, ganz gleich, ob du rein oder raus möchtest, ihm Geld bietest oder um Gnade bettelst, der Wächter wird sie am Ende wieder schließen. Einfach so. Aber lies unbedingt weiter.“ (Am Anfang sollte die letzte Seite betrachtet werden (Variante zu einer Tür, die ich von Kafka habe) Seite 51).

Für mich der Leseschatz des Jahres. Ein wunderbares Kunstwerk. Jede Leserin und jeder Leser wird etwas anderes erleben und das ist eine so großartige Idee, die gefeiert gehört. Alle werden ihren Zugang finden und bestimmt Passendes entdecken. Jeder erhält ein persönliches Ticket für diese Traumlieder. Also los, blättern in den gebundenen, aber losen Blättern. Nichts wie rein in diese gedichtete Welt und die wirkliche Welt kurz einfach mal eine andere Welt sein oder bestenfalls werden lassen.

Siehe auch Leseschatz-TV

Zum Buch in unserem Onlineshop

Weitere Lesetipps von mir und tolle Gäste auf YouTube: Leseschatz-TV

Ein Kommentar

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Eine Antwort zu “Der Leseschatz des Jahres

  1. Wolfgang Schiffer

    Deine Begeisterung begeistert! Hab´ ganz großen Dank, lieber Hauke!

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