Chrizzi Heinen: „Tropicalia Passagen“

Der Kulturbetrieb kann zuweilen wie ein großes Einkaufzentrum wirken, besonders wenn es Verlage gibt, die sogar imaginäre Literatur verlegen. Die „Tropicalia Passagen“ werden im Roman über Nacht in einen ganzen Literaturbetrieb umgewandelt und in diesem Verwandlungsprozess beobachten wir drei Menschen, die in den Strudel der Ereignisse hineingerissen werden. Die Reise in diesen außergewöhnlichen Kulturbetrieb ist eine humorvolle, ungewöhnliche und wird untermalt mit vielen Sound- und Sprachbildern.

Die irre, aber auch sehr innige Schau in die Welt der Figuren beginnt mit einem Umzug. Mila hat einen Schlussstrich gezogen. Sie war verantwortlich für die Klangkompositionen, mit denen die Besucher und Mitarbeiter des Einkaufzentrums „Tropicalia Passagen“ beschallt wurden. Sie kreierte Musik, um den Konsum, den Wohlfühlmoment und die Motivation klanglich zu verstärken. Ganz gezielt setzte sie ihre Musik ein und wurde zum Star des After-Work-Clubs. Nun hat sie gekündigt und ist umgezogen. Ihre Lebensveränderung spüren die Mitarbeiter der Passagen. Die Shops sind bereits dem Wandel verfallen und durch das Wegbleiben von Vitamin-M aka Mila entsteht eine Unzufriedenheit mit dem Centermanagement. Paul ist das Opfer der Modernisierungen. Er ist Einlagenhersteller und kennt alle Füße seiner Kunden. Er hat eine besondere Art, die Einlagen zu bemessen und benötigt dazu Bücher. Literatur ist für ihn somit nur ein Handwerksutensil. Doch ist sein Können durch die Industrie nicht mehr gefragt. Dennoch hat er sein Ladengeschäft in den Passagen noch, das fortan mehr als Postabholstation genutzt wird. Mila, die erfolgreich einen kleinen Handel mit Mimosen-Setzlingen gegründet hat, ist weiterhin auf der Suche nach künstlerischer Betätigung und Freiheit. Sie erschafft Puppen, drei Repliken als Stoffpüppchen, die sie willkürlich in die Nachbarschaft versendet. Somit schließt sich der Kreis zu Paul, der nichtzugestellte Sendungen in seinem Shop einlagert. Ein Literaturagent, der sich auf posthume Literatur spezialisiert hat, erhält ebenfalls eine der Puppen. Es ist Wagner, der im Büro ungern gesehen wird, da er durch sein Spezialgebiet wenig Umgang mit lebenden Menschen hat.

Die Passagen wurden durch die Unzufriedenheit von den Angestellten bestreikt und sogar stark beschädigt. Über Nacht hat das Centermanagement die Passagen in einen Literaturbetrieb umgewandelt. Somit vereinen sich nun die Handlungsstränge und die Puppen erhalten ein Eigenleben. Mila, die auch neuerdings in der Pflege tätig ist, findet eine ihrer versehentlich im Heim gelandeten Puppen. Durch die Print-On-Demand-Buchhandlung und den darunter liegenden Verlag wird auch die Geschichte von Vitamin-M als Buch angedacht.

Ein abgearbeitetes Shoppingcenter als Mittelpunkt einer Verwandlung und als Kulisse für unsere Gesellschaft und unseren Wunsch nach künstlerischer Selbstfindung. Nebenbei zieht der alltägliche Wahnsinn in das Leben und alles verwandelt sich. Puppen, die menschlich sind und Einkaufspassagen, die ein kulturelles Zentrum werden. Ein witziger, aber auch ein überspitzter sowie präziser Blick auf die Kulturindustrie.

Ein Roman, der einen ganz besonderen Sound hat und damit auch inhaltlich, sowie sprachlich spielt. In diesen Passagen kehren Buchmenschen gerne ein und können sich verwirren, verzaubern und bespaßen lassen. Literatur und Musik werden hier ein Ort zum Verweilen.

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